Lauenburgische Heimat
[Alte Folge]

Zeitschrift des Heimatbundes Herzogtum Lauenburg e. V.
1928



Volkstümliche Heilkräuter und Nutzpflanzen

Von Ludwig Frahm. *)

1. Kaum haben die Schneesprenkel der letzten ohnmächtigen Winterwehen den Waldesboden verlassen, so schmückt sich der braune Laubteppich mit den ersten, dunkelgrünen Dreifaltigkeitsblättern und dem Lilaweiß der Blüten unserer OSTERBLUMEN. Unsere Urgroßmütter und noch unsere Großmütter kannten eine lange Reihe von Heilkräutern und Nutzpflanzen, Säfteblättern und Orakel blüten. Zu ihnen gehört auch der genannte Erstling des Frühlings, die Anemone nemorosa. Wer die ersten drei Blüten, die er findet, roh verspeist, bekommt das ganze Jahr hindurch kein Fieber, und da verwindet man schon das bißchen Bitternis.

2. Der Winter war strenge. Hoch und lange lag der Schnee. Die paar Blätter der Brombeerranken waren bald vom Rehwild verzehrt. So mußten sie zu den Knospen langen, und dabei blieb es auch nicht. Die Stöpel der Zweige zermürbten förmlich den Magen. Aber nun ist das Eis aus den Sümpfen und Flußufern verschwunden, und da steht ein dutzendköpfiges Rudel bis an den Bauch im Wasser und weidet alle dort wuchernden Blätter des FIEBERKLEES, auch Bitterklee, Sumpfdreiblatt, wissenschaftlich Menyanthes trifoliata genannt, gründlich ab. Und von ihnen haben's dann die Menschen abgesehen und kochten sich aus den getrockneten Blättern einen blutreinigenden Tee oder übergossen die frischen mit einem Spiritus zu einem Universal-Magenbittern.

3. In den Gärten unserer Vorfahren fehlte nicht die NIESWURZ, Christrose, HeIleborus niger. Sie blüht so früh, daß sie sich gar keine Mühe zu geben braucht, um vor andern aufzufallen. Das Grün der Blüten unterscheidet sich wenig von dem der Blätter. Nur bei einigen Abarten findet sich eine Lilaumrandung. Im Volk hieß diese Pflanze nicht anders als "Wrangkrut". Wenn ein Schwein nämlich an der Wrangkrankheit litt, bohrte sein Besitzer ihm in jedes Ohr ein Loch und preßte einen Pflock vom Stengel
hinein, der von selber aus dem ausgeheilten Loch herausfiel, wenn der Schaden geheilt war.

4. Zu den Frühblühern gehört auch das SCHÖLLKRAUT, Chelidonium majus, eine der treuesten Anhängerinnen des Menschen; denn man trifft sie nur am alten Gemäuer der Dörfer und auf Schutthaufen. Das freie Feld meidet sie. Wenn man mit ihrem üppig ausströmenden gelben Milchsaft eines abgebrochenen Stengels die lästigen Warzen auf den Händen, tunlichst unter Zuhilfenahme des abbrechenden Mondes, bestreicht, so verschwinden sie in kurzer Zeit, daher heißt sie auch allgemein Wartenkrut, und Schinnkrut, weil sie einen graubraunen Fleck wie der Schinn oder Kinderschorf auf der Haut hinterläßt.

5. Auf den Blumenbeeten unserer Alten war der LAVENDEL, Lavandula spica, stets anzutreffen. Mit seinen Genossinnen KRAUSEMINZE, Mentha crispa, und GARTENRAUTE, Artemisia abomatrum, gehörte er zu den Starkduftlern, die imstande waren, den Motten und andern Schädlingen den Einzug in die Koffer, Laden und Schränke zu verwehren. Daher fand man in den Kleidungsstücken und Leinenschätzen kleine Sträuße derselben verteilt.

6. Die Blüten des FLIEDERSTRAUCHES, der LINDE und der KAMILLE werden noch heute kurz vor der schönsten Blüte gepflückt und getrocknet, um besonders bei Erkältungen als Tee ihre Verwendung zu finden. Früher war die Zahl dieser Spender eine größere. Es war Sitte, am Nachmittag des 24. Juni von neun verschiedenen Pflanzen die Blüten oder jungen Schüsse zu sammeln und in einem großen Kranz zu vereinigen, dem JOHANNISKRANZ. Derselbe prangte wochenlang an einer Wand der Wohnstube, hatte schon an und für sich eine segenspendende Kraft für das Haus und seine Bewohner,

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*) Ludwig Frahm, der bekannte Heimatschriftsteller, verdankt, wie er selbst mitteilt, die Kenntnis der heimischen Heilkräuter vornehmlich seiner Großmutter und seinem Großvater, von denen die erstere aus Ratzeburg stammte und der letztere als Schmied in Labenz lebte So hat die vorliegende Arbeit ihre Heimat in Lauenburg.
Die Schriftleitung.


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und wenn man eines Tees oder in Krankheitsfällen eines wirksamen Tranks bedurfte, wurde ihm ein Bündel entnommen. Zitronenkraut, Krauseminze, Gartenraute, Waldmeister, Marien-Bettstroh (Thymian), Gottesgnadenkraut (Hyperieum perforatum), Kamille, Lavendel und Frier un Brut (Sedum maxicum) waren die bevorzugtesten des Neegerlei-Tees.

7. Ein bevorzugter Liebling des Landvolkes war der HAUSLAUCH, Hauslaub, Sempervivum tectorum. Er war der Mutter Erde entrückt und fand sich auf der Schattenseite des Strohdaches eben oberhalb der Traufe. Wo ein Bienenhaus vorhanden war, wurde er bevorzugt. Dort breitete er sich in Polstern aus. Er schützte Haus und Hof vor allem Unfegen [sic!], besonders vor Blitzschlag. Bei Brandwunden gaben seine fleischigen, saftigen Blätter einen lindernden Umschlag. Darum sorgte ein Geschlecht nach dem andern für den Fortbestand auf dem Dache.

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. Auf unsern Wiesen prangt um die Pfingstenzeit das gefleckte Knabenkraut, Orchis maculata, das bekanntlich seinen Namen trägt, weil es schon den römischen Knaben als Schmuck diente. Die alte sowohl als auch die neue Wurzel gleichen einer Hand, daher auch Herrgottshand genannt, und wurde noch vor 20 Jahren emsig ausgegraben, um am Johannistage auf öffentlichen Plätzen (z. B. vor der Hamburger Börfe [sic!]) feil geboten. Denn wer eine folche [sic!] Wurzel in seiner Geldtasche hatte, war vor dem insamen [sic!] Geldmangel gefeit. "Wi glöwt dar ja nich an; awer schaden kann't ok nich."

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. Die bestgehaßte Pflanze des Bauern ist in manchen Gegenden der DUVOK, Schachtelhalm, Equisetum, der sich auf allen Bodenarten in seinen verschiedenen Arten fast unausrottbar angesiedelt hat. Aber einer Art gewann der umsichtige Mensch doch einen Nutzen ab. Das war Equisetum hiemale, Schargruß, Schaffruß, Schürkrut, Kannenkrut, weil man die scharfen, getrockueteu Stengel zum Blankputzen der Zinn- und Messinggefäße, der Holzmulden und Schinkenteller trefflich benutzte.

10. Nicht als Unkraut, sondern als Heilmittel fand man früher in verstecktem Winkel des Gartens nicht selten den STECHAPFEL, Datura stramonium. Asthmatische Personen und Winterhiemer streuten ein paar Körner in die brennende Tabakspfeife und empfingen angeblich Linderung.

11. Die langen Halme des STRAUSZGRASES, Agrostis spica, Windhalm, plattdeursch Meddelhalm genannt, dienten allen Rauchern langer Pfeifen zum Reinigen der Rohre.

12. Pergamentpapier gab es früher nicht. Aber man wußte sich wie immer zu helfen. Auf unsern Wiesen und Angern machten sich damals weit mehr als deute die BÖRKEBLÄDER breit, die großen Blätter von ein paar AMPFER-Arten. Da sie frei von jedem Eigenduft sind, benutzte man sie zum Verpacken und Kühlhalten der Butter.

13. Die WEIDE, plattdeutsch WIECHEL, ist sowohl als Strauch in Bruch und Knick, als auch als Baum an Wegen und Wasserläufen eine Volkspflanze. Die vielen, großflächigen Strohdachhäuser der Heimat bedurften ehemals der langschüssigen, einjährigen Triebe zum Festbinden des "Schoofs" auf den Latten. Die geraden, etwa vierjährigen Zweige lieferten die leichten, weichen Stiele für Besen und Forken. Besonders die Marschen lieferten die Bandhölzer für Fässer. Als es noch keinen Eisendraht gab, wurden alle Latten der dichtgemachten Koppel mit Weiden an die Pfähle gebunden, und der Bauer mußte dem Jungknecht erstmal zeigen, wie man mit Hand und Fuß eine „Weede krellte". Die Weide begleitete die Kinder durch die gesamte Jugendzeit, vom frühen Schäfchenspiel mit den Kätzchen (zum Verdruß des Imkers) bis zum
Lösen der Rinde im saftigen Mai zu Pfeifen und Flöten, sogar Trompeten und Schalmeien. Noch jetzt lebt der Bastlösereim:

"Sipp, sapp, summ,
Giv'n god' Brumm';
Sipp, sapp, sarr,
Giv'n god' Blarr;
Sipp, sapp, seut,
Giv'n god' Fleut,
De god geiht,
De keen' Schaden deiht.

 

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Und nun noch die Herstellung einer Schrote (plattdeutsch Schreu') zum Erdbeerenpflücken und für trocken aufzubewahrende Sämereien aus dem Garten; denn Papier war knapp.

14. Selbst die BINSEN, in Niederungsland ehemals eine der größten Plagegeister des Landwirts, wurden dienstbar gemacht. Mit ihren langen Stengeln lernten die Mädchen flechten und knüppeln» fertigten sie Hüte und Körbe, "Poggenstühle" und Bricken. Für Großmutters "Trankrüsel" mußten wir die in trockenen Gräben gewachsenen, weil vollmarkigsten Binsen bei abbrechendem Mond ziehen. Wenn das Mark sich vor ihrem Daumen wie eine weiße Schlange aus der grünen Hülle hervorschob, so erschraken die kleinsten Zuschauer.

15
. Wenn der ROHRKOLBEN, Klovpkühlen,  Typha latifolia und T. angustifolia, sich auf der Höhe ihres Wachstums befanden, so wurden ihre breiten Schilfblätter geschnitten und langsam im Schatten getrocknet. Mit diesem wundervollen Material flochten unsere Vorfahren Stühle und Schemel aus, machten sie Fußmatten und Hängematten für feuchte Wände, Bandwerk und Stricke. Manche Familien besaßen eine große Hand- und Kunstfertigkeit in diesen Dingen.

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. Auf jedem Blumenblick unserer Großmütter war der RITTERSPORN, Delphinium, anzutreffen. Nicht allein seiner Blütenpracht wegen. Sondern man pflückte mehrere der noch nicht vollausgereiften Schoten ab und trocknete sie. Dann bildeten sich auf der Oberfläche der Platten Unebenheiten und Grübchen und in diesem Zustande ersetzten sie die sonst üblichen, aber nicht überall zu erlangenden Krebssteine, die man unter das Augenlid setzte, um Haare, Insekten, Pflanzenspreu u. a. aus dem Auge zu entfernen.

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. NEUE KARTOFFELARTEN erzielte man, wenn man die besten Trauben mit ausgereiften KARTOFFELÄPFELN (wohlverstanden keine Knollen) unter der Dachtraufe aufhing, wo sie unangetastet verblieben, bis sie abfielen und sich im Erdboden die jungen Pflänzchen in angeblich mehreren Sorten entwickelten, von denen man sich ein paar der besten auswählte.

18
. Mit dem Schwinden der Heiden und Moore ist der BÄRLAPP, das SCHLANGENMOOS, Lycopodium, im Aussterben begriffen. Selbst in lichten Waldungen, wo diese immergrüne Pflanze früher förmlich den Teppich wie mit Adern durchzog» habe ich sie vergeblich gesucht. In mancher Wohnstube hing früher neben dem MÖSCHKRANZ
(Waldmeister, Asperula) ein Bärlappkranz, bis der Lenz neues Grün und Glück brachte.

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. Im Spätsommer ist der Knick bunt von Beeren. Den leuchtendsten, den VOGELBEEREN, Pirus ancuparia, auch Quitsche, Eberesche, Stinkfulen genannt, stellen die Drosseln am meisten nach. Sie sind bald aufgezehrt. Aber der Jäger kommt ihnen zuvor, pflückt sich jeden Tag eine tüchtige Tracht und trocknet sie in seinem Schauer, um mehrere Wochen lang Lockmittel für seinen Dohnenstieg zu haben.

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. Ungefähr um dieselbe Zeit blüht der RAINFARN, Tanacetum vulgare, das alte Hausmittel gegen die Wurmkrankheit der Kinder. Um die bittern Blüten genießbar zu machen, mengt man sie in Syrup.

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. Wenn mein Nachbar, ein Jäger von der alten Schule, im Herbst beim ersten Frost oder Schnee einen Fuchs fangen wollte, rührte er mit einem neuen Löffel in einem gleichfalls ungebrauchten Tonschapen einen Brei aus frischem Schweineschmalz und der abgeschabten Rinde vom KLETTERNDEN NACHTSCHATTEN, Solanum dulcamara, zusammen und tat davon einen Klacks auf das Schwanenhalseisen. Außerdem machte er damit in mäßiger Entfernung ein paar "Spuren", und der Fuchs war ihm sicher.

22
. Am KNICK entlang gehen im Herbst und Winter nicht nur Jäger und Wilddieb, dort trifft man auch die Bauern und andere Landbewohner, die in dem nun durchsichtigen Knick nach Forkenstielen, Beilhälften, Gaffeln und Handstöcken suchen, oder auch Rosenzüchter, die die Rosendornschüsse ausheben, welche sie im Sommer mit Augen versahen.

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. Im Winter sind wir Kinder mehrfach in den Bruchwald geschickt, um eine Schrote voll WACHOLDERBEEREN zu pflücken. Diese wurden von unsern alten Auftraggeberinnen in das Ofenrohr oder noch wirksamer auf die Kohlen in der "Feuerkieke" gestreut zur Verbesserung der Stubenluft.


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24. Von unsern GETREIDEGRÄSERN will ich nur eins erwähnen. Waren die 60-100 Würste von einem richtigen Bauernschwein gekocht, so legte man sie auf glattes, ausgebreitetes Roggenstroh zum Abkühlen und Trocknen. Mit diesem WURSTSTROH wurde den Obstbäumen in Kniehohe ein Seil um den Stamm gebunden, damit sie gut trügen. Leider kann ich nicht sagen, ob dieser Gebrauch aus der altgermanischen Mythologie oder von neuzeitlichen Obstzüchtern als Mittel gegen den Apfelwickler stammt.


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