Lauenburgische Heimat
[Alte Folge]

Zeitschrift des Heimatbundes Herzogtum Lauenburg e. V.
1930


Das Volkslied in Lauenburg.

Von MAX KUCKEI.

II.

Neben dieser aus der Stadt in die Provinz gewanderten Individualpoesie steht dann das Unterholz der Volksdichtung, der Rest alten Gemeinschaftsempfindens: REIME, LIEDCHEN, REDENSARTEN UND RUFE. Das Volk als Masse dichtet allerdings nie, wohl aber ein Einzelner, der noch in dieser (heute schon gelockerten) Gemeinschaft lebt und zum Sprachrohr ihres Wollens wird. Die so entstehenden Liedchen und Reime sind eben nichts Besonderes mehr, sondern nur Ausdruck dessen, was alle belebt, ihre Formen sind traditionell und feststehend. Es wäre also falsch, dem Volke jede poetische Begabung abzusprechen, zeigt doch bei mancher Gelegenheit der Mann aus dem Volke seine künstlerische Schaffenslust. Der Köstenbidder lud mit humorvollen Reimen zum Besuch der Hochzeit ein, bei der Richtfeier rühmte der Altgesell die hohe Kunst seines Handwerks, den Gutsbesitzer band man mit einem Erntespruch. Hundert formelhafte "Böt"- oder "Help"-Verse spielen in der alten Dorfmedizin eine große Rolle, mit gereimten Sprüchen wehrt man böse Geister ab und beschwört Hexen und Teufel. Das naive Künstlerempfinden des Landvolkes erfüllt die ganze Welt, Lebendes und Totes, mit menschlicher Seele. Vogelstimmen deutet man und legt den Glockenrufen primitive Poesie unter.

Was sagen z. B. die KRÄHEN?
 
Stück Aas, Stück Aas, Stück Aas!
Wonemb, wonemb, wonemb?
Achter'n Barg, achter'n Barg, achter'n Barg!
Süh dar, süh dar, süh dar!
Puk af, puk af, puk af!

Der HAHN prahlt:

Hier wahnt luder rieke Lüüd!


Der ENTERICH verächtlich:

Pracherwark! Pracherwark! Pracherwark!


Der KIEBITZ singt:

Kiewitt, wo bliew ik?
In'n Brummelbeerbusch!
Dar sing ik, dar spring ik,
dar heff ik min Lust!

Wenn dei Klocken gaht in Breed'nfeel, denn klingt dat ümmer as

Ting, lang, telo,
dei Meester slog 'n Geselln dod
tüssen Breed'nfeel un Bäla.
Ting, lang, telo!"

(Lo'nbörger Dönken.)


oder: In dei Kark tau Lütow dar hangt so 'n grot, schön Klocken in, dei hett mal ein adlig Herr an dei Kark schenkt, dei Gemein allein harr wul so 'n grot Klocken ni köpen kunnt. - Nu wüllt sei dei

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Klocken mal na'n armer Sted henbringen un er dar ophängen. Do hebt sei er ni wegkriegen kunnt, mit kein Gewalt nich, sei hebt in Lütow blieben wullt. Darvon raupt dei Klocken hüt noch ümmer:

In Lütow will ik hangen,
süß will ik na bei Eer rin sangen!

Daß die Glocken des Möllner Doms an Eulenspiegel erinnern, ist doch selbstverständlich. Sie rufen:

Ulnspeigel liggt hier begrab'n
ünner dei grote Linn, Linn, Linn,
bei is mit Nageln beslag'n
un mit vel Pinn, Pinn, Pinn!

Als ureigenstes poetisches Erzeugnis endlich betrachte ich die bekannten plattdeutschen NACHBAR-, SPOTT, TANZ-, TIER- UND TRINKREIME.

Die Kuhhirten spotten:

Herut, de Rellinger Pilepocken
heut in unsen Sommerroggen,
heut in unsen Winterweten,
wi wüllt jüm de Been afscheeten.
Herut!

Dieselben Hirtenjungen verspotten den Feldhüter:

O Jammer, o Jammer,
wat sleet mi de Panner
mit Disteln un Dorn:
ik hen' em noch söbenmal
werrer in't Korn.


In bunter Reihe springt eine lange Kette lustiger TANZLIEDCHEN an uns vorüber, verschlingt sich zum Reigen und verliert sich im Abenddämmern. Die Geschichte der  Tanzreime ist typisch für Werden und Vergehen des Volksliedes überhaupt. Einst, als der Großvater die Großmutter nahm, herrschten die Dansriemels im Saal unumschränkt als Begleit-(Sing-)Text der "Bunten". Als dann aber solche Mundmusik überflüssig und unmöglich wurde, ging das Lied auf Wanderschaft. Das "volle Orchester" erdrückte die einfache Tanzweise brutal, und wer vermochte noch bei den wilden "Runden" (Walzer) zu singen! Die Musik nahm die Weise in ihr Repertoire auf, man summte noch mit ober ließ die Musikanten einen Teil des Liedes mitsingen, nur ein Lied ist erhalten, das auch heute noch von den Tanzenden gesungen wird, während die Musik aussetzt: "O Hannes, wat'n Hot!" Wird das Tanzliedchen aber nicht mehr beachtet, verläßt es resolut die Stätte einstigen Triumphes und geht auf Wanderschaft, wo es dann ohne Bedeutungswandel nicht abgeht. War das Liedchen beliebt, vielleicht weil seine Weise so sangbar flüssig, sein Text von Allgemeininteresse war, so blieb es Freund der Erwachsenen, auch in neuer Umgebung. Das schelmische "Wenn se all een hebbt, will ik ok een hebben" wird von durstigen Kehlen auf den geliebten Schnaps umgedeutet und so zum fidelen Trinklied gemacht. Den gleichen Weg nahm "Dansbod'n hett'n Lok" und mußte sich die Um-

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Wandlung in "Kömbuddel hett'n Lok" gefallen lassen. Andere Reime verloren eine Zeile, eine Strophe, ja die eigene Selbständigkeit und taten sich mit ihresgleichen zusammen, um auf der Wanderung nicht unter die Räder zu kommen. So entstanden (und entstehen heilte noch) kraus-bunte Liedverbindungen, zusammengehalten durch gleichen oder ähnlichen Rhythmus, typische Formeln oder ähnliche Situationen. Als Beispiel sei eine solche Kontamination von Liedbruchstücken zitiert:

Lieschen, kiek mal ut de Luk,
buten is dat düster,
alle Lampen sünd utpust
mit'n groten Püster.

Morgen is dat Sündag,
slacht min Vadder en Bock,
fangt min Mudder dat Danzen an,
wat wackelt ehr de Rock.

Ha, ha, ha!
Köksch is werrer dar.
Köksch, de sitt op'n Kökendisch,
weet nich, dat hüt Neejahr is usw.

Das ist das Ende des einst so stolzen Tanzliedchens; bei den Kindern begegnen wir ihm frisch und gesund wieder. Frohe Kinder nahmen diese wandernden Gesellen auf, pflegten sie und hatten sie lieb, daß die alten Lieder wieder aufblühten und mitsprangen. So haben die Kinder eine ganze Reihe alter Volksballaden übernommen und zu kleinen Spielen dramatisch ausgestaltet: "Lieb Anna saß am breiten Stein" (früher Blaubartlied) - "Vom Schäfer und Edelmann" und viele andere mehr.

Tanz-, Trink- und Liebesreime verloren ihren animierenden Charakter und wurden zu harmlosen Liedchen, wobei ihnen die Erwachsenen den Weg bahnten. In Erinnerung an frohe Mädchentage trällert wohl die junge Mutter ihrem Jüngsten eines jener neckischen Tanz- oder Liebesliedchen vor, um es zu beruhigen. Selbst Vater beteiligt sich an der Beruhigungsaktion und summt vergnügt:

Broder, ik un du,
wi sünd den Buern tru;
wi wüllt em in den Keller krupen
un wüllt em all dat Beer utsupen.

An anderen Orten Lauenburgs hört man als WIEGENLIED den Text des ehemals weitverbreiteten "Siebensprungs":

Heidewiduum, min Mann is kamen,
heidewiduum, wat hett he bröcht!

Schmollt das Kind, so singt ihm die Mutter den alten Tanzreim vor:

Gräm du di man nich,
gräm du di man nich,
ik heff noch dree Sößling,
dat weetst du man nich.


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Manchen Trinkreim benutzt der Vater, wenn er den Jungen auf den Knien reiten läßt oder mit ihm erste Gehversuche anstellt, z. B.: "Holger Bredfot har en Peer" - "Is de Buer nich 'n Dusendschelm?" - "Janmann wull rieden" u. a.

Alle diese Liedchen nun, den Kleinen vom Erwachsenen vorgesungen oder von Kindern den "Großen" abgelauscht, werden langsam zu einem Kinderliedchen, und das kleine Volk singt sie, unbeschadet des Inhalts, wegen der leichten Weise oder den sinnfälligen Reimen.

Hat da die kleine Tochter von der Mutter einen Tanzreim gehört, sich ihn eingeprägt und läßt nun ihre Puppe nach diesem Rhythmus tanzen:

Dans, Pöppe dans.
oder:
Buko von Halberstadt
bring min lütten Uwe wat.
Wat schall ik em den[n] bringen?
Paar Schoh mit gollne Ringen.
Paar Schoh mit blanke Knöpen,
dar kann he op danzen un löpen.

oder für Mädchen:

Buko von but'n,
bring min lütt Lene Stut'n.
Bringst du ehr keen Stuten nich,
büst du ok Buko von but'n nich.

Man will in diesem Liede Erinnerungen an einen besonders kinderfreundlichen Bischof Bucco von Halberstadt erkennen, während andere Forscher in Buko die plattdeutsche Bezeichnung des einst der Göttin Freia heiligen Sonnenkäfers sehen wollen (!). In die germanische Vorzeit aber führt uns das bekannte Kinderspiel der "Meyerschen Brücke":

Hal op de Brügg, slah dal de Brügg.

Hier entscheidet sich der Germane, ob Heidentum (Hölle) oder Christentum (Himmel), gute und böse Geister zerren an seiner Seele.

Mythischen Inhalts ist dann auch das Lied vom "Christinchen im Garten" (Wassermann) oder das Spiel "Ik mag so gern in'n Mandschin gahn" (Wolf frißt die Erde).

Später findet auch das katholische Christentum seinen poetischen Niederschlag. Mutter Maria kocht dem Jesuskinde Apfelmus, spinnt das Flassengaarn und macht dem Anklopfenden die Himmelstüre auf. Marienverehrung spricht auch aus der von Gustav Friedrich Meyer aufgezeichneten Sage vom "Kielkopp", wo das Kind seinen Weg angibt:

Ik will na bei hilgen Marie na Bäuken,
dar will ik mi laten weigen,
dat ik schall gedeigen.

Auch kriegsgeschichtliche und technische Erzeugnisse spielen eine bedeutende Rolle im Kinderlied, ja, alles, was einst der Erwachsene sang, geht ins Kinderlied über.

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Hier schließt drum das Wanderbuch des Volksliedgesellen; es ist buntgestempelt und lustig anzusehen. Immer aber, auch im schäbigsten Rock, bleibt das Volkslied ein guter Kamerad. Hüten wir uns aber, das kraftvolle Volksgut als Schau- und Prunkstück zu bewundern, Volkslieder wollen gesungen sein. Darum: Lat uns singen!
 




 


 

 

 

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