Lauenburgische Heimat
[Alte Folge]

Zeitschrift des Heimatbundes Herzogtum Lauenburg e. V.
1934


DR. Friedrich Lammert:
 

Die älteste Geschichte des Landes Lauenburg. *)

Besprochen von DR. R. IRMISCH, Ratzeburg.
 

Nun liegt sie endlich in Buchform vor uns, "Die älteste Geschichte des Landes Lauenburg" von Oberstudiendirektor DR. Friedrich Lammert in Kiel. Ein fester, starker Leinenband handlichen Formats, 244 Seiten Druck nach 18 Seiten Vorwort und Inhaltsverzeichnis, dazu 6 Seiten Bilder- und Kartenanhang. Der Leser der Ratzeburger "Lauenburgischen Zeitung" kennt sie schon aus deren Monatsbeilage, den "Lauenburgischen Heimatblättern", in denen von Dezember 1930 bis zum Frühjahr 1933 alle vier Wochen eine Fortsetzung erschien. Schon die ersten Folgen zeigten dem Geschichtskenner, daß DR. Lammerts Werk ein ganz großer Wurf werden würde. Mit der an dem Verfasser bekannten wissenschaftlichen Gründlichkeit und Genauigkeit ist unter Heranziehung alles überhaupt nur in Frage kommenden Quellenmaterials, dessen Umfang fast auf jeder Seite die riesige Belesenheit DR. Lammerts verrät, ein Werk geschaffen worden, das für jetzt und für alle Zukunft sowohl die Grundlage jeder wissenschaftlichen Forschung über die ältere Geschichte Nordalbingiens als auch das Handbuch des Lauenburgischen Geschichtslehrers und Heimatfreundes sein wird.

Mit Lammerts Buch ist eine Lücke ausgefüllt worden, die von vielen Lauenburgern längst sehr unangenehm empfunden wurde. Denn bei aller Anerkennung von Hellwigs "Grundriß der Lauenburgischen Geschichte" muß man doch feststellen, daß dieses Werk nur den allerbescheidensten Ansprüchen genügte. Daß Hellwig sich dessen bewußt war, daß sein Buch nur ein Leitfaden zur Einführung in unsere Heimatgeschichte sein könne, aber nicht mehr, hat er im Vorwort zur 1. Auflage (1889) zum Ausdruck gebracht, wenn er schreibt: "Vorliegende Arbeit ... will einem gefühlten Mangel abhelfen und soll jedem Lauenburger ermöglichen, in kürzester Frist die Hauptpunkte der Geschichte seiner Heimat überschauen und sich einprägen zu können. ... Ferner soll das Heft auch dem Lehrer der lauenburgischen Volksschule ein knappes Material für seine gelegentlichen Mitteilungen aus der Heimatgeschichte in der Schulstube bieten." Daß wir demgegenüber in Lammerts Buch das wirklich grundlegende, die lauenburgische Heimatgeschichte des Mittelalters bis 1230 wirklich erschöpfend behandelnde wissenschaftliche Werk sehen dürfen, zeigt schon rein äußerlich der Umstand, daß Hellwig für diesen Zeitraum ganze 7 1/2 Seiten benötigt hat, für den Lammert 235 Seiten braucht. Kein Wunder, daß bislang dem anspruchsvolleren Geschichtsfreund nichts anderes übrig blieb, als sich all ältere Darstellungen, wie Duve, Kobbe oder Masch, zu halten, wenn auch jeder nur einigermaßen kundige Historiker aus Erfahrung weiß, daß in den meisten älteren Heimatgeschichten wenig kritisch verfahren, dafür aber desto mehr in MAJOREM GLORIAM des eignen Landes und der eignen Vorfahren munter drauflos fabuliert wird. So sagt Lammert in seinem Vorwort ganz treffend: "Anderseits fanden sich die vorhandenen älteren Darstellungen der lauenburgischen Geschichte durch manche unkritische Auswertung abgeleiteter und sogar bedeutungsloser Quellen aus späterer Zeit mannigfach entstellt." Man lese z. B. nur die Einleitung zu Maschs "Geschichte des Bistums Ratzeburg" und vergleiche damit Lammerts Angaben! Dann wird man mit Freude und Stolz feststellen den gewaltigen Fortschritt, den die historische Wissenschaft auch auf heimatkundlichem Gebiet in den vergangenen hundert Jahren gemacht hat.

Die Hauptbedeutung des als wissenschaftliche Leistung einzigartigen Lammertschen Werkes liegt in der gründlichen Klärung der bislang noch teilweise recht verworrenen Schicksale des lauenburgischen Landes vom 9. bis 13. Jahrhundert. Worin bestand denn bis jetzt unsere Kenntnis der lauenburgischen Geschichte der Frühzeit? War es nicht ein fortdauerndes Tasten und Raten und Suchen und Stolpern und Nichtweiterkommen? Man kennt wohl Adam von Bremen, Helmold von Bosau, Arnold von Lübeck, aber wer hat sie zur Hand? Man weiß von zahllosen Aufsätzen im "Archiv für die Geschichte des

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*) Lauenburgischer Heimatverlag. Preis in Leinen 4.50, broschiert 4.00 RM.

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Herzogtums Lauenburg", den "Jahrbüchern für mecklenburgische Geschichte", der "Zeitschrift des historischen Vereins für Niedersachsen" u. a., wer aber hat oder nimmt sich die Zeit, alles Notwendige und Wichtige zusammenzusuchen? Wie ganz anders stehen wir jetzt da! Der Geschichts- und Heimatfreund kann sich eingehend orientieren und für Spezialstudien die einschlägige Literatur finden, der Lehrer hat eine Möglichkeit zu gründlicher Vorbereitung für den Unterricht, der Forscher kann auf festem Grund weiterbauen. Wenn Lammert im Vorwort sagt: "Es lag jedenfalls nahe, die Ergebnisse unserer Arbeit festzuhalten und dadurch andern, etwa den Lehrern Lauenburgs, das Herangehen an die Grundlagen der Heimatgeschichte zu erleichtern, statt sie die gleiche Arbeit nochmals tun zu lassen", so sehe ich darin den praktischen Hauptwert des Buches. Ich bin gewiß, daß, wie jetzt, so auch in künftigen Zeiten, Lauenburgs Lehrerschaft dem Verfasser von ganzem Herzen danken wird; er hat es ihr erst möglich gemacht, der älteren Heimatgeschichte die Stellung im Unterricht zu geben, die sie verdient und die sie im Dritten Reiche in den Schulen einnehmen soll.

Wer DR. Lammert aus seinen andern zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten kennt, der durfte von vornherein aus der Lektüre seiner Lauenburgischen Geschichte Neues und Aufschlußreiches erwarten. Diese Erwartungen sind noch übertroffen worden. Gewiß, es wird dem einfachen Mann aus dem Volk nicht ganz leicht sein, sich durch das gelehrte, mit einem umfangreichen wissenschaftlichen Apparat ausgestattete Werk hindurchzulesen. Ein für Stunden der Muße und Ausspannung geeigneter angenehmer Zeitvertreib ist Lammerts Buch nicht. Es verlangt ernstes, stetiges, aufmerksames Einarbeiten und Studieren. Der Versuch, "Wissenschaftlichkeit und Gemeinnützigkeit zu verbinden", wie der Verfasser auf S. VIII des Vorworts schreibt, wäre m. E. noch besser geglückt, wenn die Literaturangaben am unteren Rande oder in einem besonderen Anhang untergebracht worden wären. Manchmal, so auf den Seiten 46, 75, 96, 228, 229, häufen sie sich dermaßen, daß die Folge des Inhalts unter ihnen leidet. Viele der des Lateinischen unkundigen Leser werden wahrscheinlich auch bedauern, daß zahlreiche Quellenzitate ohne Übersetzung im Text stehen, z. B. auf den Seiten 9, 28 unten, 48 oben, 56/57, 75, 92. Sollte einmal, was dem Verleger und dem Verfasser schon heute gewünscht wird, eine 2. Auflage notwendig werden, so darf man weiter den Wunsch äußern, daß anstatt der nüchternen Angabe auf Seite 106 unten: "Daraufhin begann dann Graf Adolf II ... die Kolonisation Wagriens, die Helmold I 57 so anschaulich beschreibt ..." Helmold selbst zu Worte kommt. Der Tübinger Historiker Johannes Haller sagt in seinem Buch "Die Epochen der deutschen Geschichte" Seite 134 mit Recht: "Es ist der Mühe wert, die biblisch klingenden Worte zu hören, mit denen der zeitgenössische Geschichtsschreiber, Pfarrer Helmold von Bosau am Plöner See, das Ereignis erzählt." Die Stelle bei Helmold lautet so: "Weil aber das Land menschenleer war, sandte der Graf (Adolf II. von Holstein) Boten aus in alle Lande, nämlich nach Flandern und Holland, nach Utrecht, Westfalen und Friesland, auf daß alle, die von der Landnot bedrückt wurden, mit ihren Hausgenossen kämen, um schönsten Boden, weiten Raum, reich an Früchten, überreich an Fisch und Fleisch und einladend durch üppige Weiden, zu empfangen. Und er sprach zu den Holsten und Stormarn: "Habt ihr nicht das Land der Slaven unterworfen und es erkauft mit dem Tod eurer Väter und Brüder? Warum also kommt ihr als die letzten, es in Besitz zu nehmen? Seid doch die ersten und wandert herüber in das ersehnte Land, und bebauet es und nehmet Teil an seinen Köstlichkeiten, da euch der beste Teil davon gebührt, die ihr es der Hand der Feinde entrissen habt." Auf diesen Ruf erhob sich eine ungezählte Menge aus verschiedenen Stämmen, nahmen ihr Gesinde mit und ihre Habe und kamen ins Land der Wagrier zum Grafen Adolf, um den Boden zu empfangen, den er ihnen versprochen hatte. Auch sonst wird es möglich sein, den Text durch Quellenstellen noch anschaulicher und interessanter zu gestalten (so über die Gründung Lübecks, den Bau der Löwenstadt u. a.). Aber abgesehen von den wenigen oben gekennzeichneten Schönheitsfehlern, deren Vermeidung vielleicht aus Gründen des Druckes und der Rücksichtnahme auf den zur Verfügung stehenden Buchumfang nicht möglich gewesen ist, bietet jeder Abschnitt selbst dem anspruchsvollen Heimatforscher so viel Neues und Überraschendes, daß man immer weiter liest. Man erlebt nach, was der Verfasser im Vorwort Seite VIII-IX in die


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Worte kleidet: "Bei diesem ausgedehnten Quellenstudium und bei dieser dauernden kritischen Betrachtungsweise erlebte ich während der Arbeit verschiedene Überraschungen hinsichtlich einiger Vorurteile, mit denen ich von der allgemeinen Geschichte her und von den vorhandenen Lauenburgischen Geschichten aus an diese Landesgeschichte herangegangen war."

Solcher Überraschungen waren es vor allem drei (Vorwort IX-X):

1) Es war "die klare Erkenntnis: daß das Slaventum in dieser ältesten Geschichte des Landes Lauenburg eine nennenswerte Rolle nicht spielt".

2) "Herzog Heinrich der Löwe von Sachsen hat nicht die ausschlaggebende Bedeutung für Lauenburg, die ihm die ältere Geschichtsschreibung und die historische Belletristik zuschreibt. ... Das Land ist längst vor ihm in deutscher Hand gewesen. ... Beim Vortragen der kirchlichen Organisation nach Osten ist anderer Einfluß stärker, für Ratzeburg spürbar der von Magdeburg und der der Askanier, also der staufischen Zentralregierung gegenüber den unentwegten Partikularisten."

3) "Dieses Stück deutscher Territorialgeschichte" widerlegt den oft gehörten Vorwurf: Die Kaiser hätten für die deutschen Aufgaben im Norden und Osten nichts übrig gehabt.

Im folgenden soll auf diese und andere überraschende historische Erkenntnisse, die geeignet sind, das bisherige Geschichtsbild zu ändern, noch näher eingegangen werden. So wird im 1. Abschnitt, der die Karolingerzeit bis zum Jahre 911 enthält, gezeigt, daß die Obotriten, die damaligen Bewohner unserer Lande, dem fränkischen Reich "eng verbunden, ja, von ihm abhängig" erscheinen (Seite 14). Ihre Fürsten waren Gäste auf deutschen Reichstagen und unterhielten Gesandtschaften beim Kaiser. Wenn auch die Quellen für diese Zeit spärlich fließen, so umreißen sie uns doch in großen Zügen "die Stellung des karolingischen Reiches in seinem festen Eckpfeiler im Nordosten. Wir erkennen die Grundlage, die, einmal gelegt, das deutsche Volk zu der ungeheuren und nie genug zu würdigenden Nord- und Ostkolonisation, der Kulturvermittlung zwischen dem alten und dem neuen Europa, befähigte. Der Ausblick auf diese Verhältnisse ist geeignet, jedes Eindringen in die lauenburgische Heimatgeschichte über die Enge bloßer Lokalgeschichte zu erheben (Seite 22)." So leitet gleich der erste Abschnitt dazu an, "das ganze Verhältnis zwischen Deutschen und Obotriten als minder blutrünstig zu betrachten, als es unter dem Einfluß poetisch und rhetorisch gefärbter Geschichtsschreiber der folgenden Jahrhunderte gewöhnlich geschehen ist" (Seite 26).

Der zweite Abschnitt, die Zeit der Kaiser aus dem sächsischen Hause (919-1024) umfassend, legt in sehr gründlicher und exakter Weise dar, daß das damalige Lauenburg im Süden und Osten von deutschem Einflußgebiet umklammert worden ist. Die Slavenstämme waren unter deutscher Oberhoheit, behielten aber ihre Selbstverwaltung. Von einem ewigen Grenzkrieg und blutigen Fehden, wie man häufig noch liest und hört, wissen die Quellen nichts. Selbst Ottos II. Niederlage bei Squillace an der Küste von Kalabrien am 13. Juli 982 ändert in unseren Gegenden nichts an diesem friedlichen Verhältnis. Noch immer heißt es übertreibend und verallgemeinernd in Geschichtsbüchern, z. B. in dem Teubnerschen Geschichtlichen Unterrichtswerk, Grundriß für die Oberstufe, II S. 43: "Auf die Kunde von der Niederlage Ottos II. in Unteritalien erheben sich 983 alle Slaven und gewinnen vorübergehend die Elbgrenze zurück", oder im Methodischen Handbuch der Deutschen Geschichte von Adolf Bär III S. 78: "Noch im Sommer des Jahres 983 erhoben sich alle östlichen und nördlichen Nachbarvölker der Deutschen, die Ungarn, Slaven und Dänen."

Selbst Dietrich Schäfer in seiner Deutschen Geschichte I. S. 172 schreibt reichlich unbestimmt: "Gleichzeitig oder etwas später erhoben sich die ostelbischen Wenden in verwüstendem Aufruhr." Lammert zeigt ausführlich, daß Kaiser Ottos II. Niederlage im fernen Süditalien gegen die Griechen einen ALLGEMEINEN Zusammenbruch der deutschen Herrschaft über die Slawen nicht zur Folge gehabt haben kann. "Von einem Abfall der Obotriten ... von bleibender Bedeutung kann ... also tatsächlich keine Rede sein. Aber allerlei Händel mit ihnen muß es doch in diesen Jahrzehnten gegeben haben" (S. 38). Wichtig ist in dem Zusammenhang die weitere Feststellung, daß das Christentum und der deutsche Kultureinfluß damals kaum gelitten haben. Erst

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seit dem Anfang des 11. Jahrhunderts hat es auch bei uns Aufstände mit Plünderungen und Zerstörungen von Kirchen gegeben, ohne daß etwa aller deutsche Einfluß damit ausgeschaltet worden wäre. Im Gegenteil: Lammert stellt auf S. 40 ausdrücklich fest, daß damals die Slawen die höhere Kultur von den Deutschen übernommen und an deren Grundlagen seitdem festgehalten haben. Wenn man das liest, so wird man doch recht bedenklich gegenüber Behauptungen der Art, daß durch den großen Slawenaufstand seit dem Jahre 983 mit der Zerstörung christlicher Kirchen jedweder deutscher Kultureinfluß vernichtet worden sei. Davon kann gar keine Rede sein. Unter diesen Umständen sind, das wird man schon jetzt vorausschauend erkennen können, die großen Kolonisatoren des 12. Jahrhunderts wie Heinrich der Löwe, Adolf von Schaumburg und Heinrich von Botwide nicht die eigentlichen Begründer, sondern nur die Fortführer und Vertiefer des Deutschtums und Christentums in Nordalbingien. Man urteilt zu sehr von unserem heutigen Standpunkt aus und damit historisch falsch, wenn man die Kämpfe von Deutschen und Slawen auf nationale und rassenmäßige Gegensätze zurückführt. Das Erste Reich der mittelalterlichen Deutschen Kaiser war übernational, imperialistisch. Deutsche. Italiener und Slawen fühlten sich als Glieder dieses gewaltigen Reiches. Lammert legt auf diese Feststellung besonderen Wert. Zu dem Zweck hat er die bekannte bildliche Huldigung der vier Nationen Italien, Germanien, Gallien und Slawonien vor Kaiser Otto III. aus dem Evangelienbuch Ottos III. im Anhang abdrucken lassen (Gallien war damals die Bezeichnung für Westdeutschland, besonders Groß-Lothringen).

Im dritten Abschnitt, der die Zeit der Salier (1024-1125) umfaßt, werden auf S. 45 f. mit kritischem Maßstab die seit Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen nunmehr wieder wichtiger werdenden deutsch-dänischen Beziehungen überprüft und schiefe, tendenziöse Urteile richtig gestellt. An dieser Stelle muß ganz allgemein anerkennend gesagt werden, daß der Verfasser die engen Beziehungen zwischen dänischer und nordalbingischer Geschichte mit bestem Erfolg zu entwirren sucht, so daß manche neue Lichter auf die deutsch-dänischen Verhältnisse im frühen Mittelalter fallen.

In unserer Geschichtsschreibung herrschte bisher die Ansicht vor, daß die salischen Kaiser die deutsche Slawenpolitik nicht wesentlich gefördert hätten, so z. B. bei Dietrich Schäfer, Deutsche Geschichte I S. 265, Karl Hampe, Deutsche Kaisergeschichte im Zeitalter der Salier und Staufer S. 105 f., Adolf Bär, Handbuch der Geschichte IV. S. 48. Durch die Richtung der deutschen Gesamtpolitik nach dem Süden und Südwesten des Reiches im 11. Jahrhundert, die vor allem bestimmt wurde durch den  verhängnisvollen Investiturstreit, seien diese Herrscher von Osten und Nordosten abgelenkt worden. Das hat man nun vielfach so verstanden, als ob die beiden letzten Salier, Heinrich IV. und Heinrich V., sich überhaupt nicht mehr um Nordalbingien gekümmert und ihre königlichen Rechte aufgegeben hätten. Daß dem nicht so ist, beweist u. a. die bis jetzt bei uns unbekannt gewesene Tatsache, daß der junge König Heinrich IV. wahrscheinlich an einem Zug gegen die slawischen Liutizen teilgenommen hat (S. 80). Überaus wichtig ist ferner für unsere Geschichte die Urkunde Heinrichs IV. vom Jahre 1062, die die erste urkundliche Bezeugung des "castellum Razesburg" enthält. Über diese Burg Ratzeburg hat kein slawischer Fürst, sondern der deutsche König das Verfügungsrecht. Ratzeburg ist höchstwahrscheinlich eine Art Königsgut, Reichsbesitz aus der Zeit der Sachsenkaiser. Lammert deutet zum ersten Male auf den Seiten 57 ff. in ganz meisterhafter Weise dieses wichtige Dokument und kommt zu dem Ergebnis, "daß die Burg Ratzeburg früh ein Stützpunkt des Deutschtums im Lande gewesen ist" und daß auch der Name Ratzeburg als deutsch angesehen werden muß (S. 60). Die Burg Ratzeburg ist deutscher Stützpunkt geblieben und hat alle Stürme der Folgezeit überstanden. Die deutsche Herrschaft muß, wie Lammert auf Seite 77 ff. ausführt, weiter existiert haben; nur die kirchliche Organisation erlitt durch die Abwehr der Slawen Einbuße. Alles in allem stellt dies dritte Kapitel eine Ehrenrettung der wegen ihres geringen Interesses für den deutschen Osten viel gelästerten salischen Kaiser dar. Man muß dem Verfasser durchaus zustimmen, wenn er auf S. 85 bemerkt: "Es ist auch heute, und umsomehr in der Zeit der damaligen Verkehrsverhältnisse, durchaus gegeben, daß die Zentralgewalt ihre Absichten durch die zuständigen Lokalgewalten ausführen läßt." Dies gilt für


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die Zeit der Salier ebenso wie für die der nicht minder verkannten Hohenstaufen, wie allgemein.

Der vierte Abschnitt behandelt die "klassische" Zeit unserer mittelalterlichen Heimatgeschichte, die Zeit der Kolonisation von Lothar von Supplinburg über Heinrich den Löwen, die Schauenburger und Botwides bis hin zur Schlacht von Bornhöved im Jahre 1227. Dieses Kapitel umfaßt, wie man sich denken kann, die größere Hälfte des Buches. Und wenn schon die ersten drei Kapitel nicht nur für die Geschichte Nordalbingiens, sondern auch für die ganz Norddeutschlands neue geschichtliche Erkenntnisse gaben oder Annahmen bestätigen, so wird einem bei der Lektüre des Zeitraums von 1125-1230 klar, daß, wie Lammert im Vorwort sagt, "die Geschichte des Landes Lauenburg nicht allein als Landesgeschichte Bedeutung hat, sondern an wichtigen Stellen ein Stück der Geschichte unseres deutschen Reiches darstellt.

Ich erinnere mich noch heute gern eines Vortrages unsers unvergeßlichen DR. H. F. Gerhard, den er 1928 oder 1929 vor den Mitgliedern des Schleswig­Holsteinischen Geschichtsvereins in Waldesruh hielt. Er sprach über die Lauenburgische Geschichte in ihrer Bedeutung für die Gesamtgeschichte. Ich habe seitdem in meinem Geschichtsunterricht jedesmal, wenn ich zum 12. Jahrhundert kam, die lauenburgische Geschichte ganz gründlich behandelt und auf ihrem Hintergrund die allgemeine deutsche Ostpolitik erstehen lassen. Wieviel besser sind wir nun daran, wo wir Lammerts Buch in Händen haben. Nun gilt es aber auch, manche Ansichten und Urteile zu ändern. Lammert überzeugt uns davon, daß das eigentliche Lauenburg im 12. Jahrhundert kein Kampfland mehr gewesen ist. So sagt er auf S. 105: "Merkwürdig ist, wie schon oft, daß wir bei Kämpfen hier im Nordosten nichts vom Schicksal des heutigen Lauenburger Landes erfahren. Man darf das ... wohl dahin verstehen, daß eben für Sadelbende, aber auch längst für das Ratzeburger Land, slawischer Einfluß nicht in Betracht kam."

Ferner werden, wie schon die Salier, so auch die Hohenstaufen in Schutz genommen gegen Angriffe der Art, daß sie für unseren Nordosten nichts bedeutet hätten (so Dietrich Schäfer, a. a. O. I. S. 275). Heinrich der Löwe ist ohne Friedrich Rotbart nicht denkbar. Beide Männer haben "mit gegenseitiger Rückendeckung gewirkt" (S. 109), der eine im Norden und Nordosten, der andre im Süden und Südwesten. "So sind auch die Erfolge Heinrichs des Löwen ohne den starken Rückhalt, den er bis zu seinem schmählichen Abfall an Friedrich Rotbart fand, nicht denkbar" (S. 109). Immer wieder läßt Lammert aus den Quellen erstehen die stetige Einwirkung des deutschen Königs auf die Geschicke unseres Landes: Die Einrichtung und Ausstattung des neuen Bistums Ratzeburg wurde durch kaiserliche Urkunde von 1154 dem Herzog Heinrich übertragen; der erste Bischof Evermod war gut kaiserlich gesinnt; immer wieder findet man die nordalbingischen Grafen am Kaiserhof, wo sie Bericht über ihre Tätigkeit erstatten mußten. Aber nicht nur Friedrich I. und sein Sohn Heinrich VI., die beiden gewaltigsten Hohenstaufen, sondern auch der minder bedeutende Philipp von Schwaben, Friedrichs I. jüngerer Sohn, wird gelobt. Auf S. 201 bringt Lammert ein anerkennendes Zitat von F. Rörig aus einer Rede zum 700 jährigen Gedenktag von Bornhöved (1927): "Ein deutscher König ist es, der allein in der Zeit von 1190 bis 1223 die dänische Macht ernsthaft gefährdet hat: Philipp von Schwaben" (S. 201). Selbst Friedrichs II. viel getadelter Vertrag von Metz mit dem Dänenkönig Waldemar II. vom Jahre 1214, in dem der erstere dem Dänen die Reichsgebiete jenseits der Elde und Elbe überläßt, wird von Lammert entschuldigt. Er weist nach, daß der Vertrag "keineswegs leichtfertig, aus mangelndem Interesse für den deutschen Norden geschlossen sei", sondern mehr aus politischer Taktik (S. 205 f.). Die Seiten 212 ff. bringen weiteres ausführliches Material dafür, daß sogar ein dem deutschen Wesen so fremder Fürst wie Friedrich II. (1215-1250) sich um den deutschen Nordosten gekümmert hat, auch wenn er nicht selbst in unsere Lande kam. Denselben Standpunkt nimmt übrigens auch Karl Hampe a. a. O. S. 229 ein, wo er schreibt: "Immerhin hat der Kaiser ... die letzten Ereignisse aus der Ferne mit förderndem Interesse begleitet, wie etwa die Erneuerung der Reichsfreiheit Lübecks (1226) bekundete, und die Gestaltung der Dinge durchaus anerkannt."


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Es ist selbstverständlich nicht möglich, alle wertvollen Ergebnisse und Aufschlüsse, die Lammerts Buch über unsere lauenburgische Geschichte bringt, anzugeben. Die Besprechung soll ja vor allem den Zweck haben, dazu anzuregen, das Werk sich anzuschaffen und durchzuarbeiten. Alle Berufsschichten werden Interessantes entdecken. Der Geistliche wird neben der Aufhellung der bislang so problematischen ältesten kirchlichen Geschichte vor 1154 die Frühgeschichte des Bistums Ratzeburg, dessen Bischöfe eine feine Würdigung erhalten, aber auch die Nachrichten über die ersten dörflichen Kirchspiele Lauenburgs (S. 174 ff.; 226 ff.) finden. Der Kaufmann wird aufgeklärt über wichtige mittelalterliche Handelswege in unserm Gebiet (S. 181 f.) und wird erstaunt sein, wenn er liest, daß Ratzeburg zeitweise Anteil an der Seefahrt gehabt haben muß (S. 138). Dem Bauern wird mancherlei Wissenswertes über die Bodenkultur geboten, deren Pflege den lauenburgischen Landesherren sehr am Herzen lag (S. 196 f.). Der Soldat wird viel Interessantes über die damalige Kriegskunst erfahren, z. B. auf S. 209 f. die Betätigung des Herzogs Albrecht als Artillerist bei der Belagerung einer Burg. Der Erdkundler wird genaue Angaben finden über den Umfang des mittelalterlichen Lauenburgs (S. 223 f.), seine Bewohnerzahl (S. 135) und die Siedlungsverhältnisse. Gerade heute, wo das Wort Siedlung zum Losungswort einer neuen Epoche deutscher Geschichte geworden ist, wird es allgemein interessieren, daß Lauenburger starken Anteil gehabt haben an der Kolonisierung des fernen Livlands. Hier hat besonders der Ratzeburger Bischof Philipp (1204-1215) mit großem Erfolg gewirkt (S. 186 ff.). Ganz famos ist der anschauliche, spannungsreiche Bericht Heinrichs von Lettland über die abenteuerliche Heimfahrt des Bischofs (S. 189 ff.).

Das ist nur einiges aus vielem; denn es ist, wie schon gesagt, ganz unmöglich, das überaus inhaltsreiche Buch auch nur annähernd auszuschöpfen. Der rührige Lauenburgische Heimatverlag, Ratzeburg i. Lbg., der kein Opfer gescheut hat, das Werk mit Bildern, Zeichnungen und Karten, letztere von Herrn Zeichenlehrer E. Ackert in Ratzeburg, aufs beste auszustatten, verdient, daß dies Buch in viele lauenburger Häuser kommt und - gelesen wird.



 

 

 

 

 

 

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