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vierzigjährigen Künstler noch
alljährlich in seine Vaterstadt zieht. Christlieb wohnt in der
"Welt des ewigen Schweigens" und mußte deshalb früh sein Vaterhaus
verlassen, um Zögling der Provinzial-Sprachheilanstalt in Schleswig
zu werden. Dort führte ihn ein gütiges Geschenk einem besonders
tüchtigen Lehrer zu, der ihm nicht nur
ein gutes Wissen, sondern auch - die Sprache gab. Dann, nach
Beendigung seiner Schulzeit, wurde Christlieb zunächst Stukkateur.
Um sich in diesem Fache fortzubilden, besuchte er die
Kunstgewerbeschule in Hamburg. Bald aber erkannte man sein starkes
Talent. Und so erhielt er die Möglichkeit, bei Professor Kurz in
München zu studieren, sich auf ausgedehnten Reisen, die ihn
besonders nach Italien führten, neue Anregungen zu suchen und sich
schließlich ganz der Bildhauerei zu widmen. Jetzt steht der Künstler
auf der Höhe seines Schaffens. Auf allen größeren Ausstellungen
finden wir seine Werke. Hohe Behörden und Museen haben Arbeiten von
ihm erworben.
Mona Lisa.
Bildnis der Schwester des Künstlers.
Von Harry Christlieb.
Harry Christlieb ist besonders
als Tierplastiker bekannt geworden, aber es darf nicht vergessen
werden, daß er auch den menschlichen Körper in ausgezeichneten
Arbeiten nachgebildet hat. Eine der schönsten ist wohl das Bildnis
seiner Schwester, die der Künstler als Mona Lisa wiedergab. Das Werk
wurde bereits im Jahre 1916 bei einer Veranstaltung
des Vaterländischen Frauenvereins in Mölln gezeigt.
Ueberaus anziehend ist dann eine Statue aus Goldbronze, eine schöne
knospende Mädchengestalt, der der Künstler den Namen "Eva" gegeben
hat. Das Werk wurde auf einer Ausstellung gehörloser Künstler
ausgezeichnet, die als bisher einzige ihrer Art von der
Landes-Taubstummenanstalt in Schleswig veranstaltet wurde. Die
Provinz erwarb die schöne Arbeit für das Thaulow-Museum in Kiel.
Neben diesen Werken entstand eine lange Reihe lebensvoller,
charakteristischer Porträtbüsten, ein allerliebster Kinderkopf,
zierliche Porzellanarbeiten und vieles, vieles andere - kurz eine
Fülle von
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Eva. Von Harry Christlieb.
Angekauft von der Provinz
Schleswig-Holstein.
Werken allerverschiedenster
Prägung, die die fabelhafte Vielseitigkeit des Künstlers zeigen. Am
liebsten aber holte sich Christlieb, wie ich schon andeutete, seine
Motive aus der Welt der Tiere. So ist er vor allem in den
zoologischen Gärten heimisch. Den armen Gefangenen dort ist er ein
verstehender Freund, der merkwürdig schnell das Vertrauen selbst der
blutgierigsten Raubtiere gewinnt. Dort - vor den vergitterten
Zwingern - steht der Künstler und beobachtet und zeichnet und
modelliert, und nicht selten muß seine Linke ein Tierchen kraulen,
während seine Rechte den Ton knetet und formt. So hat er einmal mit
der einen Hand die Halsmuskeln eines zarten Füllens modelliert,
während die andre dem jungen Tier zärtlich die Milchflasche reichte.
Wie innig sich der Künstler in die Tierseele versenkt, zeigt seine
Gazellengruppe "Mutterliebe" und zeigen seien vielen immer
wechselnden Affengruppen. Gerade diesen unruhigen, quirligen,
menschenähnlichen Tieren hat Christlieb sein besonderes Studium
zugewandt. Da sehen wir, monumental erfaßt, den kraftvollen jungen
Gorilla, wie er lässig auf seiner Hinterhand sitzt und mit der
Rechten den wuchtigen Körper stützt. Da finden wir einen
nachdenklichen Familienvater, der brütend neben seiner Gattin hockt,
während diese ängstlich ihr zartes Junges umsorgt. Und weiter sehen
wir da Spieler und Zänker, Philosophen und Träumer - alle aber von
vollendeter Naturwahrheit und von überraschender künstlerischer
Prägung.
Gerade diese lebensvollen Affengruppen haben Christlieb bei Kritik
und Publikum viel Anerkennung gebracht. Eine von ihnen wurde erst
kürzlich vom Preußischen Staatsministerium angekauft. Eine andere
wird zur Zeit auf einer Dresdener Ausstellung von den Besuchern viel
bewundert.
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Putten. Porzellanfiguren
von Harry Christlieb.
Gorilla.
Von Harry Christlieb.
Vielleicht ergibt sich einmal
die Möglichkeit, daß ein größeres Werk Christliebs auch in der
Lauenburgischen Heimat des Künstlers Aufstellung findet. Oder sollte
sich für diesen außergewöhnlich talentvollen Künstler bei uns kein
Mäzen finden? Sollte man hier bei öffentlichen Aufträgen ganz an ihm
vorbeigehen? Unser Land könnte - so meine ich - die aus unserm
Heimatboden entsprossene Kunst nicht schöner ehren als durch den
Ankauf eines Werkes von Harry Christlieb.
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