I.
In den siebenziger und achtziger
Jahren des verflossenen Jahrhunderts machte in unserm
Heimatlande viel von sich reden ein niederdeutscher
Schriftsteller und Dichter, der jetzt schon sehr in
Vergessenheit geraten ist und dessen man wohl kaum noch
Erwähnung tun wird, wenn die letzten seiner schon seit langem
vergriffenen Schriften vollends dahin sind. Und doch hat ein
immerhin namhafter Literat und Dichter niederdeutscher Zunge,
Dr. Karl Theodor Gaedertz aus Lübeck, (1884) auf
ihn als auf einen Dichter verwiesen, "der berufen zu sein
schien, mit der Zeit auf dem Gebiete des plattdeutschen Romans
noch Bedeutendes zu leisten." (Harten Leina. XXVIII.)
Es ist HEINRICH BURMESTER, der als Sohn des Mittelkätners Hans
Hinrich Burmester am 11. November 1839
in Niendorf a. d. St. geboren und bereits am 17.
desselben Monats getauft wurde und die Namen Franz Joachim
Heinrich erhielt.*) Von Ostern 1846 bis dahin
1854 besuchte er die Volksschule seines Dorfes,
worauf er dann am Sonntag Quasimodogeniti, deu 23.
April 1854, dortselbst konfirmiert wurde durch
Pastor Block, der ihm das Zeugnis gegeben hat, daß er
"vorzügliche Kenntnisse" besitze. Da der junge Burmester sich
dem Lehrerberufe widmen wollte, bezog er Ostern 1858
die damalige Lehrerbildungsanstalt (Präparande) in
Ratzeburg, die er mit 2 Jahren absolvierte. Seine
erste Anstellung als Lehrer erhielt er Ostern 1860
an der 1850 vom Rektor Professor Bobertag
begründeten privaten Vorschule am Ratzeburger Gymnasium, wo er
annähernd 2 Jahre verblieb. Dann zog es den
rastlos Vorwärtsstrebenden nach Hamburg, wo er an Privatschulen
unterrichtete und zugleich auch zu seiner weiteren Ausbildung
das Realgymnasium, Abteilung für Lehrer, besuchte. Schon längere
Zeit hatte er sich auch mit dem Erlernen der alten und neuen
Sprachen befaßt, und so bezog er dann (freilich ohne
Maturitätsprüfung) im Herbst 1863 die Universität Kopenhagen, um
Sprachwissenschaft zu studieren. Der 1864
eingetretene Krieg führte ihn jedoch bald wieder auf deutsche
Hochschulen, zunächst nach Halle, später nach Kiel, wo er auf
Anraten der Ärzte wegen eines Brustleidens zur Jurisprudenz
überging. Allein fehlende Mittel zwangen ihn zur Aufgabe des
Studiums, dem er 3 Jahre unter furchtbaren
Entbehrungen obgelegen hatte. Nach seinen Aufzeichnungen in
"Harten Leina" (S. 58) hat er ganze Monate hindurch tags nur
einmal gegessen, daß er abends vor Hunger nicht hat einschlafen
können, und im Winter stets in der eiskalten Stube gesessen.
Unruhevolle Wanderjahre führten den mit seinem Schicksal
Hadernden als Hauslehrer auf mehrere Güter Lauenburgs und
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*) Heute besitzt ein Großneffe des Dichters diese Stelle.
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Mecklenburgs. Am längsten weilte er auf dem
Gute Dalldorf bei Lauenburg als Hauslehrer beim Gutsbesitzer Rodde (1868-69).
Hier hatte er eine ganz angenehme Stellung, die ihm auch Zeit für
schriftstellerische Arbeiten ließ. Unter Zugrundelegung der Dalldorfer und auch
wohl der Niendorfer Verhältnisse schrieb Heinrich Burmester sein Erstlingswerk
"ARM UN RIEK, ein Bild aus dem Leben, in niedersächsisch-lauenburgischer
Mundart", das 1872 im Verlage von Otto Meißner in Hamburg
erschien. Es stellt in seinen 15 Kapiteln die traurige soziale
Lage des sog. 4. Standes gegenüber den privilegierten
Standesherren dar. Der stolze, übermütige Gutsherr Drenkhahn, dessen ganzes
Streben darauf hinausläuft, sich den Adelsbrief zu verschaffen, bedrückt seine
ihm recht- und schutzlos gegenüberstehenden Tagelöhner durch Willkürakte
allerlei Art, besonders den ihm verwandten Schäfer - die Großväter waren Brüder
-, dessen Namen "Drenkhahn" der gefügige Pastor auf des Gutsbesitzers Wunsch im
Kirchenbuche in "Dreckhahn" umändert. Den Gutsbesitzer ärgert offenbar die
Verwandtschaft mit der "Kanaille", und als Dreckhahn nach einer überstandenen
schweren Krankheit nicht die volle Arbeitskraft wieder erlangt, kürzt er ihm
"nach Ordnung und Schick" sein Deputat, indes Frau und Kinder bitter Mangel und
Hunger leiden. In freventlichem Übermut setzt er bei einem Ausritt mit seinem
Roß über Dreckhahns am Wege spielenden kleinen Christian hinweg, unbekümmert um
Leben und Gesundheit des Kindes, das zwar wie durch ein Wunder äußerlich
unverletzt bleibt, aber von einem langwierigen Nervenleiden befallen wird. Der
gewaltige Schreck bebt durch die Seele des Kindes fort und fort und äußert sich
in heftigen Fieberphantasien. Als des Kindes Vater den Gutsherrn um ärztliche
Hilfe bittet, wird er roh angefahren und höhnisch abgewiesen. Bis aufs Blut
peinigt der Gutsherr nun den Armen mit überharter Arbeit im Moor, ja er läßt ihn
schließlich ganz unbegründet, auf bloßen Verdacht hin, monatelang als Dieb im
Gefängnis sitzen. Die Frau des Armen wäre wohl in Verzweiflung untergegangen und
die Kinder in Elend und Schmutz verkommen, wenn nicht die edle Gutsherrin ohne
Wissen und Willen ihres Gemahls sich der Ärmsten angenommen hätte. Nach
monatelanger Untersuchungshaft erlangt der alte, ehrliche Dreckhahn, dem nichts
nachzuweisen ist, die Freiheit wieder, und zwar am selben Tage, an dem Herr
Drenkhahn mit seinen adeligen Gutsnachbaren [sic!]
eine Hetzjagd abhält. Im rasenden Galopp scheut plötzlich des Gutsherrn
Schimmel, der Reiter stürzt herab, bleibt aber mit einem Fuß im Steigbügel
hängen und wird von dem wildgewordenen Pferd mit fortgeschleift. Dreckhahn, der
gerade des Weges kommt, sieht seines Herrn Leben in Gefahr, greift dem Pferd in
die Zügel, das sich aber hoch ausbäumt und mit dem Vorderhuf dem braven Retter
die Brust einschlägt. So hat der Vielgeschmähte, seinem Peiniger das Leben zu
retten, sein eigenes Leben eingebüßt. Nur ein schlichtes Begräbnis, ohne Geläut
und Gesang, ohne Grabrede und Geleit des Geistlichen - die Gebühren dafür
konnten ja nicht bezahlt werden! - wird dem Braven zu teil. Der Gutsherr erholt
sich unter der sorgsamen Pflege seiner Gattin nach längerer Zeit wieder;
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aber als ein anderer Mensch ersteht er von
seinem Krankenbett. Schon aus seinen Fieberphantasien haben wir die sich in
seinem Innern vollzogene Wandlung erkennen können, und als nun gar durch einen
seltsamen Umstand auch die Unschuld Dreckhahns offenkundig geworden ist, da
übergibt der Gutsherr das Gut seinem Inspektor,
zieht sich in die Stadt zurück und sucht durch Wohltun seine alten Sünden zu
sühnen. Auf dem Gute waltet jedoch nun unter der neuen Gutsherrschaft ein neuer
Geist, und Dreckhahns Witwe, die schon an Gott und der Welt verzweifelte, kann
wieder neuen Lebensmut fassen. So nimmt unser an sich düsteres Epos einen
immerhin versöhnlichen Abschluß ähnlich dem wenn auch in literarischer Hinsicht
ungleich wertvolleren "Kein Hüsung" von Fritz Reuter, das ja auch wie ein
mächtiger, erschütternder Notschrei über die schwere soziale Not und die
erbarmungslose Knechtung eines dienenden Volkes wirkt und nach bitterernstem
Leid doch mit einem lichtvollen Ausblick in die Zukunft schließt.
Als ein "BILD AUS DEM LEBEN" bezeichnet der Dichter sein Erstlingswerk; aber
schwerlich wird er es auf SEINE Zeit beziehen wollen; denn weder der damalige
Gutsherr Rodde aus Dalldorf, noch der Gutsbesitzer Metzener auf Niendorf a. d.
St. können Burmester für seinen Herrn Drenkhahn als Vorwurf gedient haben, und
auch der im Epos so bloßgestellte derzeitige Pastor Rohrdantz aus Lütau, zu
dessen Sprengel Dalldorf gehört, war ein in jeder Hinsicht würdiger Geistlicher.
Verhältnisse und Charaktere wie die gezeichneten gehören eben einer Zeit an, die
mindestens ein Jahrhundert vor dieser Darstellung liegt.
Schon dieses Erstlingswerk Burmesters ist in vielfacher Beziehung typisch für
seine weiteren Versgedichte, ja auch für seine Romane. Er liebt die Darstellung
der Verhältnisse bäuerlichen, kleinbürgerlichen Lebens, die er aus eigener
Anschauung kennen gelernt hat, und zeigt dabei eine mehr oder weniger starke
Voreingenommenheit gegen Großgrundbesitzer und auch gegen Geistliche. - Mit der
ländlichen Natur aufs beste vertraut, gibt er sehr oft treffliche, anheimelnde
Naturbilder; "er weiß überhaupt Natur- und Menschenleben miteinander in innigen
Einklang zu bringen. Wie Fritz Reuter, besonders in "Kein Hüsung", so leitet
auch Burmester fast jedes Kapitel mit einem feingezeichneten Stimmungsbild ein,
das er dann geschickt und ungezwungen auf die Situation hinführt. (S. S.
44) - Daß die Darstellung der Geschehnisse, namentlich einzelner
Nebenepisoden, vielfach in die Breite geht, mag ein Zugeständnis des Dichters an
seine plattdeutsche Mundart sein; aber auch sein entschiedenes Talent, im Detail
zu malen, mag ihn dazu verleitet haben. Gar gern ergeht er sich auch in
Betrachtungen z. B. (wie in "Arm un Rik") über Armut, Welt, Leben, Recht und
dergl. Die Beantwortung der Frage: "Was ist das Glück?" führt ihn in einer
längeren Gedankenreihe (9. Gesang) zu dem Ergebnis, daß das
höchste Glück die Liebe biete, was er dann im unmittelbaren Anschluß daran in
dem ersten Liebesleben des Inspektors Willrodt mit Mathilde, der Nichte der
Gutsherrin, darstellt und zart mahnend mit den Worten beschließt:
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"Nu stör sei nicht, lat ehr dat
Glück ümsweben;
Denn is noch frie dien Seel un rein dien Hart,
Du freust die mit, wenn Minschen glücklich ward" (S.
77.) |
Abweichend vom Versmaß des Epos, hat der Dichter diesen 9.
Gesang ganz in Stanzen dargestellt, einer Strophenform, derer er sich später oft
und nicht ohne Geschick bedient.
Bereits ein Jahr später (1873) veröffentlichte Burmester wieder
ein Epos in niederdeutscher Mundart: "SCHAULMESTER KLEIN, ein Bild aus dem
Leben", das im Selbstverlage des Verfassers in Hamburg erschien, wohin
inzwischen sein Lebensschifflein verschlagen war. Das Buch ist nicht etwa
pädagogischen, sondern sozialen Inhalts; denn es schildert die Notlage eines
armen Dorfschullehrers und dessen Kampf mit den widrigen Verhältnissen seines
Lebens, ganz besonders mit seinem Pastor und Schulinspektor Henning Hahn aus
Jörgenhill, in dem wir wohl den in seiner Gemeinde höchst unbeliebten Pastor
Hennings aus St. Georgsberg vermuten können. *)
Die Hauptperson des Gedichts ist natürlich Schaulmester Klein, "das arme
Dorfschulmeisterlein", wie er in der Dichtung des öfteren bezeichnet wird, ein
stiller, sinnierender Mensch, gleich treu in seiner Schularbeit wie auch in der
Sorge und Arbeit für seine vielköpfige Familie, in der Not und Entbehrung eine
Heimstätte gefunden haben. Sein Pastor Henning Hahn hegt wegen eines
Vorkomn1nisses, an dem Klein ganz schuldlos ist, einen stillen Groll gegen ihn.
Bei einer Schulrevision findet er, daß Klein in der Bibelauslegung "des Wortes
GEIST UND KRAFT" mehr gelten läßt als den BUCHSTABEN der Schrift, und erstattet
darob beim Visitatorium Anzeige, woraufhin Klein zur Verantwortung gezogen wird.
Als nicht lange darauf Klein beim Pastor um Befürwortung einer Bittschrift wegen
einer dringend benötigten wirtschaftlichen Beihilfe von 5 Talern
bittet, da seine Frau todkrank daniederliege und fünf hungernde Kinder ihr Bett
umständen, wird er unter Hinweis auf die noch schwebende Untersuchung schroff
und unbarmherzig abgewiesen. Der Pastor, der gerade vor einem opulenten
Frühstück sitzt, weist ihn - es nimmt sich aus wie schneidender Hohn - noch auf
das Schriftwort hin: "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein." Vollends
niedergeschlagen, kehrt Schulmeister Klein heim. Da trifft ihn ein neuer,
härterer Schlag. Sein treues Weib, dem Tode nahe, nimmt Abschied von der sie
umstehenden weinenden Kinderschar und sinkt bald darauf entseelt zurück. Wenige
Tage darauf wird sie unter Teilnahme eines großen Zuges Leidtragender bestattet.
Der Pastor, statt eine trostspendende Leichenrede zu halten, redet nur von
Gottes strafender Gerechtigkeit und während sich die Trauergemeinde entfernt,
ruft er den tiefgebeugten Klein zu sich und teilt ihm seine inzwischen
beschlossene Dienstentlassung mit. Dieser Schicksalsschlag wirft den Alten
vollends danieder; wenige Wochen darauf ist er an gebrochenem Herzen
verschieden. Doch auch den
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*) Pastor Hennings, eines Lehrers Sohn, amtierte hier von 1839-1870,
wo er wegen schwerer Harthörigkeit, fast Taubheit, emeritiert wurde und nach
Lübeck verzog. Hier ist er dann nach langem Leiden im 77. Lebensjahr 1874
gestorben.
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hartherzigen Pharisäer, den Pastor, trifft
die strafende Nemesis: er muß wegen nachgewiesener Unregelmäßigkeiten in der
Führung seiner Kirchenrechnung aus dem Amt scheiden.
"Hei neuhm sik wied von hier
sien’ Sitz
Un wannern ded’ hei rut ut Land,
Hei treck herin nah Lubowitz,
Wiel dor sien Schann’ wer nicht bekannt." |
Der herben Haupthandlung unserer Versdichtung parallel läuft eine
kleine Nebenhandlung, die dem ganzen Stück einen freundlicheren Einschlag gibt
und auch den Schluß harmonisch ausklingen läßt. Im Mittelpunkt dieser Episode
steht die jugendliche Schöne, Angreithen Prein, eine Waise und doch Erbin eines
großen Bauernhofes in Westerwiek, die nachherige Braut und Gemahlin Hans Kleins,
des Sohnes unseres Lehrers. Zuerst treffen wir sie in ihrem schweren Herzeleid -
Pastor Henning Hahn hat sie bei der Konfirmation wegen des Fehltrittes ihrer
Eltern als "Kind der Sünde" bezeichnet - bei Mutter Klein, wo sie tröstlichen
Zuspruch findet. Der Dichter stellt diese Episode (im 4. Kapitel)
in gemessener Stanzenform dar, stört aber den poetischen Eindruck durch
vorausgehende, langatmige Reflexionen über "dat grote Rätsel hier in’ Leben."
Ungleich schöner mutet uns das Lied von der ersten Liebe Langen und Bangen in
seinem leichten kurzzeiligen Versmaß an (Kap. 8), zumal der
Dichter die jeweilige Stimmung Angreithens in der Natur durch Nachtigallensang
und Uhuruf widertönen läßt. Auch der Sang von seliger Kindheit, der als Auftakt
zum nachfolgenden Hochgesang von Angreithens und Hans’ Liebesglück erscheint
(Kap. 10), ist wirklich feine Dichtung, deren Strophen in leichten
Anapästen zierlich dahingleiten. Daß Angreithen nach dem Tode der Frau Klein so
recht der Trost des Alten wird und in steter Hilfsbereitschaft die verarmte
Familie Klein durch Gaben der Liebe erfreut, findet seinen besonderen sanglichen
Ausdruck in den ersten, freilich etwas wortreichen Strophen des 14.
Kapitels. Eine gewisse Breite ist wohl echt volkstümlich und ist auch dem
Plattdeutschen eigentümlich; aber sie ist bei Burmester nicht episch, sondern
reflektierend, didaktisch, und das entspricht unserm heutigen Empfinden gar
nicht. Anders ist es mit den feinstilisierten Schilderungen aus dem Natur- und
Menschenleben. Hier ist der Dichter in seinem Element. Ausgehend von zarter,
gemütvoller Naturbetrachtung, weiß er diese geschickt mit der jedesmaligen
Situation in Einklang zu bringen, so z. B. gleich im Eingang der Versdichtung.
Die vortreffliche Schilderung eines Frühlingssonntagsmorgens - es ist
Quasimodogeniti, der ehemalige Konfirmationstag - führt ungezwungen hin auf die
frohe, freie Konfirmandenschar und weiterhin auf den nachdenklich sinnenden
Lehrer Klein und den selbstbewußten Pastor Henning Hahn: eine feine Exposition.
Den Anfang des 2. Kapitels bildet eine etwas drastische, aber
nicht üble Schilderung der "guten, alten Zeit". Ein ergötzliches, in jeder
Beziehung zutreffendes Bild dörflichen Lebens damaliger Zeit gibt uns der
Dichter Kap. 12 in der eingehenden Schilderung eines Brakeltages,
einer Flachsbreche, mit ihrem un-
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vermeidlichen Klatsch, der aber auch alle
Dorfereignisse, nicht zuletzt Angreithens Liebesverhältnis, hervorkehrt und
kritisiert. "Oll Timmsch und Schausterdort", zwei markante Typen dieses Kreises,
lassen sich nach "Wiewerart" sogar mit ihrem weisen "Tungenslach" noch im
ernsten Trauerzuge der Mutter Klein vernehmen, eine feine Malice des Dichters,
zugleich aber auch ein poetisches Kunstmittel, die tiefe Tragik der
Begräbnisszene in etwas zu mildern. - Im Schluß gibt der Dichter, wenn auch nur
zaghaft, der Hoffnung Ausdruck, daß da "man los lett von den ollen STIEHL", dem
Verfasser der als stark rückständig angesehenen Regulative von 1854,
die Zukunft für die soziale Stellung des Lehrerstandes eine bessere Zeit
heraufführen werde.
Das der Versdichtung vorgestellte Motto, ein Wort aus Ciceros Rede für Sex.
Roscius aus Ameria: "Laßt uns dort das Übel suchen, wo es ist und gefunden
werden kann!" läßt erkennen, daß wir es mit einer Tendenzdichtung zu tun haben,
was sich ja auch zweifelsohne aus der ganzen Handlung und besonders auch aus dem
Schluß ergibt. Entschieden ist für den Lehrerstand Partei ergriffen, besonders
für den armen, gequälten, gehetzten Dorfschullehrer vergangener Tage. Die große
Frage bleibt nur, ob diese Parteinahme nicht von Gehässigkeit gegen den Pastor
Henning Hahn diktiert ist. "Was den Geistlichen betrifft", schreibt ein Freund
der Muse Burmesters, Dr. K. Th. Gaedertz, in der Einleitung zu "Harten Leina",
so ist mir, Gott sei Dank, ein solcher, wie er hier vor Augen tritt, noch nie
vorgekommen; er bildet jedenfalls eine Ausnahme und vermag nicht die
unvergeßlich schönen Eindrücke zu verwischen, welche ich gerade in deutschen
Pfarrhäusern auf dem Lande empfangen habe."
Im Jahre 1877 erschien "OHMVETTER, ein Bild aus dem Leben", im
Verlage von W. Nietzsche in Bergedorf. Es ist F. L. Nirrnheim, "Direktor und
Inhaber einer Realschule zu Hamburg dankbarlichst gewidmet" und trägt als Motto
das Wort des lateinischen Grammatikers Terentianus Maurus: "HABENT SUA FATA
LIBELLI." *) Den Titel des Buches hat Burmester auf seinen Anverwandten, einen
welterfahrenen und in jeder Beziehung originellen Altenteiler seines
Heimatdorfes, den bei alt und jung wohlbekannten "Ohmvetter" bezogen, der ihm
die ganze Fabel, die unserm Epos zugrunde liegt, mitgeteilt hat.
"As he vertell’ un wüß noch all’,
So hev ik’t denn beschreben;
Ut ollen Tieden ’ne oll Geschicht,
Ik meuk dorut en niet Gedicht." |
Eine Rahmendichtung also, bestehend aus Anfang, 14
Kapiteln und Schluß, liegt uns vor, und ihr Held ist nicht der von Leben und
Kraft strotzende Ohmvetter, den uns der Dichter (S. 6) im Eingang so trefflich
schildert, sondern der junge Müller in Niendorf a. d. St., des Dichters
Heimatdorf. Seinen Namen erfahren wir nirgendwo in der Dichtung; der war
offenbar wie damals üblich in die Be-
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*) d. h. Es haben die Bücher (wie sie gerade der Leser versteht) ihre
Schicksale.
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rufsbezeichnung aufgegangen: Der Müller WAR und HIESZ eben im
Dorfe bei all und jedermann "DE MÖLLER." - Sein Vater, "de olle Möller", hatte
bei der Geburt dieses seines Sohnes und alleinigen Erben neben der Wassermühle
eine junge, schmucke Eiche eingepflanzt. "As Sinnbild schall se vör em wesen",
so hatte er hoffnungsfroh
dabei geäußert. Aber die Entwickelung seines Sohnes zu einem braven, guten
Jungen und auch zu einem tüchtigen Müllerlehrling sollte er nicht mehr erleben;
allzufrüh sank er ins Grab. Einige Zeit darauf führten die Wanderjahre den
jungen Müllergesellen durch das weite deutsche Land, und reich an
Lebenserfahrung kehrte er zur Mutter zurück, die, unterstützt von ihrem
Hausmädchen Mariechen,
"Dörpschäper Püß sien grallögt
Kind", |
dem Hauswesen vorstand. Benachbart wohnte ein Anverwandter, der
Vollhufner Voß, ein unsympathischer, selbstsüchtiger Mensch.
"He ded’ sik grienen den ganzen
Dag
Un har dat dumsdick achter de Ohrn,
Un ümmer har he einen in’ Kieker,
De Lüden de seden, he wer en Slieker ..."
|
In verschmitzter Weise suchte er eine Verbindung seiner nicht
gerade jugendlich schönen Tochter Stina, "dat Elefantenküken", mit dem jungen,
vielseitig begehrten Müller herbeizuführen, und tatsächlich gelang es ihm auch
durch seine Überredungskunst, dessen Mutter für diesen Plan zu gewinnen. Aber
der Sohn hatte schon ganz im stillen das brave und bescheidene "Marieken" in
sein Herz geschlossen und zum Zeichen dessen in unmittelbarer Nähe des vom Vater
gepflanzten Eichbäumchens einen prächtigen Rosenstock eingesetzt. Nichts ahnend
hatte das junge Mädchen ihm bei dieser symbolischen Handlung sogar noch die
erbetene Handreichung leisten müssen. Bei Gelegenheit des nicht lange darauf
festlich begangenen Ringreitens, das dem jungen Müller die verdiente Königswürde
eintrug. gab er sein bis dahin still gewahrtes Geheimnis kund: mit festem
Entschluß erkor er Schäfers Marie als seine Tanzkönigin, wobei er mit seinem
Anstand die Worte sprach:
"As König kam ik hüt tau die,
Wes’ du de Königin tau mie!" (S. 60.) |
Ungeheuer wie die vorherige Spannung aller Festteilnehmer,
insonderheit der jungen Mädchen, - nur "achternhen dor stünn’ Marieken un ded’
verlorn herümmer kieken" - so und noch größer war die nachfolgende Verwunderung
und Aufregung. (S. 59.) Der Dichter kann sich nicht genug tun,
durch ein ganzes Kapitel hin diese Situation in besonders leuchtenden, wirksamen
Farben darzustellen.
"Dat ganze Dörp dat wer
verbiestert,
Dat ganze Dörp dat wer verbast", |
so beginnt noch das nächstfolgende (9.) Kapitel, wo
die hochgehenden Wogen der Erregung noch nachwirken und sich erst allmählich
abzuebben beginnen. Die stolze "Oll Möllersch", aufs höchste betroffen
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von der Wahl ihres Sohnes, sucht ihn
natürlich abzubringen von "son Dern as se, sa nakt un barrs", wie Mariechen von
einer neidischen Nachbarin bezeichnet wird. Aber weder Vorstellungen der Mutter,
noch Bespöttelung neidischer Nachbarn können den Müllerssohn in seinem Entschluß
wankend machen. "Se’s mien! se’s mien!" so spricht sein Mund. Die innige
Seelenverbundenheit zwischen dem in sozialer Hinsicht so ungleichen Paar hat der
Dichter in der Zwiesprach [sic!] zwischen Eiche und
Rose (Kap. 10) in poetisch hochfeiner Weise zum Ausdruck gebracht.
Nichts hilft es "Oll Möllersch", daß sie das Mädchen mit harten Schelt- und
Schimpfworten schmält und sogar mit Dienstentlassung bedroht; auf des Vaters
Anraten:
"Gah hen, mien Dochter, un holl
die recht", |
bleibt die Tochter treu in Dienst und Pflicht. Da vollführt die
Frau, wohl auf Anstiften des ränkevollen Nachbars Voß, einen wahrhaft
teuflischen Anschlag auf das Leben des Mädchens.
Unter dem Schutz der Dunkelheit durchsägt sie ein Brett des Waschsteges im
Mühlenteich, und als nun am nächsten Vormittage Maria mit Wäschespülen
beschäftigt wird, da bricht der Steg mitten durch, und unter lautem Aufschrei
sinkt sie sofort auf den Grund des tiefen, morastigen Teiches. In fliegender
Eile, nicht achtend des eigenen Lebens, stürzt der Müllerssohn, der dies
zufällig gesehen, ihr nach und rettet sie unter den schwierigsten Umständen,
tauchend und schwimmend, vom sicheren Tode des Ertrinkens. (101-106.)
Der ganzen Rettungsaktion, an der sich auch die Nachbarn in ihrer Weise eifrigst
beteiligen, hat der Dichter die höchste Spannung verliehen und bei alledem doch
durchaus lebenswahr dargestellt; auch die Stimmung und Haltung der erregten
Menge über die vermeintlichen Urheber der
Untat sind im rechten drastischen Volkston gut wiedergegeben:
"Dat olle Wief dat hätt dat dahn,
Dat Wief dat mag taun’ Deuwel gahn ...."
"Ja, Nawer Vosz deit dornah wesen,
Hei hätt sien Lev’ un Dag’ nicht döcht!
Man kann’t em ut de Ogen lesen,
He hätt de Ollsch dat Stück biebröcht! ...."
"Man ded’ ehr drauhn mit Galgen un Gericht,
Doch ehr bewiesen kunn de Sak man nicht." |
Aber die Strafe für die Freveltat blieb nicht aus: "Oll Voß"
wurde von jung und alt gemieden und so aus aller Gemeinschaft ausgeschlossen,
und "Möller-Ollsch", die noch zu ihrem größten Verdruß die Hochzeit des
glückseligen Paares mithalten mußte, war in einer sturmdurchtobten Wetternacht
um Weihnachten herum, da "de Wand gewaltiglich ded’ toben", plötzlich aus dem
Hause verschwunden. Erst nach tagelangem Suchen wurde sie in einem Wasserloch
gefunden. "Rindreben har ehr dat Geweten."
Als Abschluß der Erzählung in Kap. 14 zeigt uns der Dichter
nochmals unter dem Bilde Eiche und Rose das volle Glück des jungen Paares und
zwar zur schönen Maienzeit, und dann rundet
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er im "Sluß" sein Epos formgerecht ab, indem
er auf "Ohmvetter mit en Mund voll Snack" zurückkehrt und mit einem Nachwort und
Gruß an den Leser schließt.
Als Ganzes genommen, ist "Ohmvetter" eine wirklich nette, aus dem Volksleben
gegriffene, fein pointierte Dorfgeschichte, die in dieser Hinsicht "Arm un Rik"
und "Schaulmester Klein" weit übertrifft. Das Tendenziöse tritt in dieser
Dichtung ganz zurück, und vor allem auch ein gewisser an Gehässigkeit grenzender
Unterton, der in den beiden andern Versdichtungen oft geradezu störend wirkt.
Von Weitschweifigkeit und übertriebener Breite, besonders in Nebenhandlungen,
ist aber auch der "Ohmvetter" nicht frei; Kap. 5 und 11
z. B. könnten unbeschadet des Ganzen stark zusammengestrichen, wenn nicht ganz
fortgelassen werden. Als wohlgelungen müssen neben der bereits erwähnten
Darstellung einzelner Situationen auch die Zeichnungen einzelner markanter
Persönlichkeiten erwähnt werden: Da ist das in jeder Beziehung so sympathische
junge Paar, der intrigante Bauer Voß, der zum Philosophistieren geneigte
Dorfschäper Püß, dessen Einfalt an einer Stelle freilich überzeichnet ist, der
pfiffige "Doktor Wunnerlich, de Putzbüdel". Gelegentlich eingestreute Spiel- und
Kinderreime (S. 19, 52, 71, 73,
124, 125), Tanzlieder (S. 63 und
65) und andere lyrische Dichtungen (Müllers Heimatlied S. 13,
Mariechens Liebessang S. 33, Müllers Liebesklage S. 100) mit ihrem
besonderen Strophenbau bringen nicht nur eine schöne Abwechselung hervor,
sondern erhöhen den volkstümlichen Charakter unseres Epos, das unbestritten
Burmesters beste Versdichtung ist.
Auf wesentlich niederer Stufe stehen die 1881 im Selbstverlage des Verfassers
erschienenen "LANDSTIMMEN", eine Sammlung von 21 plattdeutschen
und 3 hochdeutschen Gedichten, deren Entstehung wohl einige Zeit
zurückliegen mag. Wer unter dem Titel "Landstimmen" Heimatdichtungen mit mehr
oder weniger stark ausgeprägtem örtlichen Kolorit zu finden wähnt, wird stark
enttäuscht sein; denn nur ein Stück, "De Düwelsdiek", ist heimische
Sagendichtung, und zwei andere Stücke enthalten eine lose Anspielung auf
Geschehnisse im Stecknitztal; dagegen sind zehn Stücke Übersetzungen aus dem
Dänischen, Schwedischen, Französischen, Holländischen und Englischen ins
Plattdeutsche (!), haben also gewiß nichts mit lokalen Verhältnissen zu tun.
Unter den drei hochdeutschen Gedichten ist das bemerkenswerteste "Ein Mahnruf,
geschrieben 1877", ein gutgemeintes zeit- und parteipolitisches
Gedicht in Stanzenform, in dem der Dichter alle Parteien, die Konservativen, die
Liberalen und Sozialisten - auch die Kirche wird nicht ausgeschlossen -
selbstsüchtiger Regungen bezichtigt und sie dann auffordert, Eigennutz und
Zwietracht zu bannen und sich in treuer Pflicht mit reinem Herzenssinn
zusammenzuscharen und fürderhin Menschenliebe zu üben. Von den plattdeutschen
Dichtungen dieser Sammlung stehen einige auf beachtenswerter literarischer Höhe.
"Mien Antje" ist ein temperamentvolles Liebeslied, das aus jeder Zeile der Liebe
Glück und Zauber widerspiegelt. "De Abend up’n Dörpen" zeigt uns eine
behagliche, traute Schummerstunde in einer Bauernstube, ein Idyll im besten
Sinne des Wortes.
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"De Düwelsdiek" ist eine wohlgelungene
Bearbeitung einer Sage mit ihrem schaurigen mitternächtlichen Spuk. "De
Schäperhochtied" stellt ein köstliches Dorferlebnis dar, das den Volkston aufs
glücklichste trifft. Alle dann noch folgenden Stücke sind freilich fast
ausnahmslos weitschichtige, fade Reimereien, die das Werturteil über die ganze
Sammlung stark herabmindern, also besser unveröffentlicht geblieben wären.
(Ende des I. Teils)
* * *
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