Innerhalb der evangelischen Kirche ist zur
Zeit die Gesangbuchfrage höchst aktuell. Durch die
Industrialisierung und Freizügigkeit, insbesondere durch den
verlorenen Krieg, wodurch die Bewohner der Grenzgebiete, von
ihren Wohnsitzen vertrieben, genötigt wurden, irgendwo im
deutschen Land eine neue Heimstatt zu suchen, sind heuer die
deutschen Brüder so durcheinander gewirbelt, daß nunmehr
erschreckend deutlich geworden ist, wie groß die Gesangbuchnot
im evangelischen Deutschland ist. Als Musterbeispiel diene die
Lage in der Stadt Ratzeburg. Hier drängen sich nicht weniger als
drei verschiedene Gesangbücher zusammen. Die St. Petri-Gemeinde
singt aus dem Lauenburgischen, die Domgemeinde aus dem
Strelitzschen, der Schüler der Gelehrtenschule aus dem
Schleswig-Holsteinischen Gesangbuch. Nahe ist Lübeck, Hamburg,
Schwerin, Oldenburg, die sämtlich ihr Sonderbuch haben. Jede
kleine Landeskirche pflegt ge- 1928/4 - 134
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Titelbild des Stift-Ratzeburger
Gesangbuches von 1725.
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treulich ihre Text- und Melodietradition. Wenn nun in der
hiesigen St. Petrikirche Lauenburger, Strelitzer, Schweriner, Oldenburger,
Hamburger, Lübecker, Holsteiner gemeinsam Gottesdienst feiern, so würde die
Einheit durch den Widerstreit der Texte und Melodien gestört werden, wenn nicht
die Lauenburger die Mehrheit bildeten. Nicht einmal das Schutz- und Trutzlied
der Reformation "Ein feste Burg" hat eine einheitliche Melodie und Text.
So drängt denn alles zu dem EINHEITSGESANGBUCH, das der Zersplitterung ein Ende
machen soll. Zunächst steht zu hoffen, daß wenigstens die Landeskirchen der
hiesigen Gegenden: die beiden Mecklenburg, Lauenburg, Schleswig-Holstein,
Lübeck, Hamburg, Oldenburg im Jahre 1930 ein Einheitsgesangbuch
erhalten werden.
Es hat schon einmal eine Zeit gegeben, in der die Gesangbuchfrage brennend war.
Die Not, der zu steuern war, bestand vor ca. 200 Jahren darin, daß
die einzelnen Landeskirchen innerhalb ihrer Sprengel die verschiedensten
Gesangbücher hatten. So wurden im Lauenburgischen deren fünf benutzt: Das Alt-
und Neu-Hannoversche, sowie das Stift-Ratzeburgische, das Cellesche und
Harzische. Erst 1741, also 200 Jahre nach Luther,
dem Schöpfer des deutschen, evangelischen Gesangbuches, gelang es, im Herzogtum
Lauenburg ein Einheitsgesangbuch einzuführen.
Erheblich früher war man im Stift Ratzeburg dazu gelangt. Schon um 1700
war dort das Bedürfnis nach Einheit in der Gesangbuchsache in Kirchen und
Schulen derart groß, daß der Probst Gutzmer in der Domdruckerei ein
Einheitsgesangbuch drucken zu lassen beabsichtigte. Sein Tod aber hinderte ihn,
in sämtlichen Kirchen und Schulen des verhältnismäßig kleinen Sprengels auf
diesem Gebiete die Einheit durchzuführen. Die Aufgabe blieb seinem Nachfolger,
dem gelehrten Magister und Probsten Gottfried Kohlreiff, der vor seiner Berufung
an den Dom als Licentiat der Theologie kirchengeschichtliche Vorlesungen an der
Kieler Universität gehalten hatte. Die Gesangbuchnot in
den 8 ihm unterstellten Gemeinden war groß, da dort drei verschiedene
Liederbücher im Gebrauch waren: das Lübecker, Hamburger, Rostocker. Nach zehn
Jahre langer Arbeit konnte der Probst die Sammlung der deutschen und
lateinischen Choräle dem Druck übergeben. Der damalige Dombuchdrucker und
Verleger - Andreas Hartz aus Braunschweig - war ein tüchtiger, gottesfürchtiger
Mann, der als Typograph und Buchbinder Vorzügliches leistete. Die BILDBEIGABE
verdient jedoch besondere Aufmerksamkeit. Sie ist nicht nur durch die historisch
bedeutsame Ansicht von Groß-Ratzeburg wertvoll, sondern legt auch ein Zeugnis
davon ab, wie fein der Herausgeber und Verleger zusammengearbeitet haben. Ohne
Frage stammen die Motive zu den vier Bildern von Kohlreiff. Die Sonne bricht
durch die Wolken, während der KÖNIGLICHE HARFNER seinen Gott, Jahwe, dessen Name
in hebräischer Schrift von der himmlischen Höhe herabstrahlt, "mit Singen und
Spielen" verherrlicht. Daß der Choral ein Opfer ist, stellt DER RAUCHENDE
OPFERALTAR dar. Mit dem Gesangbuch will der Verleger Gott ein Dankopfer bringen;
heißt es doch im ersten Choral desselben: "Du wilt ein opffer haben, Hier bring
ich meine gaben, Mein Weyrauch, farr und widder Sind mein gebeth und lieder."
Das dritte Bild zeigt eine bezaubernd schöne Gebirgslandschaft. Aber Berge,
Täler, Seen schwingt sich dem Adler gleich DAS BEFLÜGELTE HERZ, um sich von der
Jahwe-Sonne zum Lobe Gottes entzünden zu lassen. Das Herzmotiv kehrt endlich im
4. Bilde nochmals wieder. Ein im Glauben brennend Herz gründet
sich auf die Bibel, die durch zwei Anker festgelegt ist, so daß sie kein Sturm
der Zeiten vernichten kann. Welch tiefe Innerlichkeit offenbart der
Zusammenklang der vier Darstellungen, die dem Frommen zurufen wollen: "Singt,
spielt und opfert mit frohem Munde und brennendem Herzen dem Herrn, der eure
Gnadensonne ist. Soli deo gloria!"
Unser Titelbild ist der dritten, vermehrten Auflage entnommen. Die erste von
1715 war ein wohl gelungener Versuch gewesen, der schon nach 5
Jahren eine 2. Auflage erheischte, nachdem die
Theologische Fakultät zu Helmstedt die bei den Liedern gemachten Anmerkungen und
Erläuterungen mit empfehlender Zensur versehen.
Was den Wert des Ratzeburgischen Gesangbuches steigerte, war der Anhang, der ein
Doppeltes enthielt: ein Gebetbuch und eine "Liederkrone",
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die geschichtliches Material zu den einzelnen Gesängen bringt,
wobei auch Heimatgeschichtliches aus unsrer Gegend berücksichtigt ist, z. B. den
seligen Heimgang des 1724 verstorbenen Erblandmarschalls von Bülow-Gudow. Es wird in
der Vorrede zur 3. Auflage ausdrücklich bezeugt, daß an der
Liederkrone "so wohl Gelehrte als Ungelehrte ihr Vergnügen" gehabt hätten.
Man kann die Bedeutung des neuen Einheitsgesangbuches nicht hoch genug
anschlagen. Es war fortan das Buch, das einzige Buch hin und her in den
ländlichen Gemeinden. Die Bibel war so teuer, daß man diese kaum erwerben
konnte. Zeitungen wurden wohl von einzelnen hochmögenden Persönlichkeiten in den
Städten gehalten, aber in Ratzeburg hatte man eine solche noch nicht. Sie
erschien hier 1771 zum ersten Male. So war denn das Ratzeburger
Gesangbuch vielfach die einzige geistige Nahrung. Den Lauenburger Heimatfreunden
wird es bemerkenswert sein zu wissen, daß dieses Stift-Ratzeburger Gesangbuch
von 1713-1741 auch hie und da im Lauenburger Lande in Gebrauch
gewesen ist, bis Superintendent Beneke seine "Evangelische Liedertheologie" als
Einheitsgesangbuch des Herzogtums einführte.
Es ist nicht Aufgabe dieser Veröffentlichung, auf den tatsächlichen inneren Wert
des Stift-Ratzeburgischen Einheitsgesangbuches näher einzugehen. Indessen dürfte
erwünscht sein zu erfahren, was man früher darüber geurteilt hat. Um 1800
wird in einem theologischen Fachblatt die Kohlreiffsche Liedersammlung als
"ungenießbares Produkt", "eine geschmacklose Kompilation, welche ... wert war,
von der hinzugefügten Liederkrone noch stattlicher aufgestutzt zu werden",
bezeichnet, während in den Lauenburgischen Anzeigen von 1826
(Stück 74) ein Fachmann schreibt, diese habe schon in der Zeit
ihres ersten Erscheinens kaum die Ansprüche jener Zeit erfüllt. Andererseits
fand es in dem Lübschen Rektor Lic. von Seelen einen Verteidiger und Lobredner,
über den freilich sein Gegner urteilte: "Wahr bleibt es, daß öfters Literaten
von großem Rufe und Fleiße als Kritiker im Fache der schönen Wissenschaften sehr
schülermäßig erscheinen." Jedenfalls war das Ratzeburger Gesangbnch
[sic!] in den Tagen eines Klopstock und Gellert
verbesserungsbedürftig, zumal sich die zahlreich darin vorhandenen lateinischen
Lieder überlebt hatten. Probst Nauwerk und der Domrektor Küster überarbeiteten
es im Jahre 1773. 60 Jahre später mußte es einem
neuen Gesangbuche weichen, nachdem es viele Auflagen erlebt und den
Stift-Ratzeburgischen Gemeinden ca. 120 Jahre treulich gedient
hatte. Das Titelbild aber hat noch heute Gegenwartswert.
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Besondere Aufmerksamkeit verdient auf dem Titelblatt des alten
Gesangbuches die Ansicht der Stadt Ratzeburg, wie diese sich vor fast genau
200 Jahren darstellte. Wir sehen darauf neben der Kirche von St.
Georgsberg das alte Amtshaus, das eben vor der Jahrhundertwende an Stelle des
alten Seekenhofes errichtet war. Der Lüneburger Damm ist damals noch ganz
schmal. Das Schloß, welches auf der Schloßwiese dahinter lag, war längst
geschleift. Zwei Zugbrücken unterbrachen, wie wir deutlich erkennen, den Weg von
St. Georgsberg zum Lüneburger Tor. Bei diesem Tor aber schiebt sich eine starke
Verschanzung nach Westen vor, durch einen Wassergraben, der heute verschüttet
ist, von der eigentlichen Stadt getrennt. Die neue Baracke, die in der
Erläuterung erwähnt wird, ist die alte Bürgerschule. Von der alten Baracke, die
in der Großen Wallstraße lag, sind heute nur noch die Flankenhäuser am Südende
der Straße (Baurat Menzel) und dem Hansahotel gegenüber (Verwaltungsdirektor
Loch) stehen geblieben. Die Häuser der Regierung, die wir freilich mehr ahnen
als erkennen, lagen wie noch 1 1/2 Jahrhunderte später in der
Herrenstraße. Das Pulvermagazin im Vordergründe, das ringsum von hohen
Pallisaden umgeben ist, stand an der Stelle der späteren Brauerei. Die
Stadtkirche ist noch das alte romanisch-gotische Kirchlein, das erst 1786
dem jetzigen Bau weichen mußte. Das Rathaus trug damals ein kleines Türmchen,
das wir auch auf dem Bilde zu erkennen glauben. Das Herrenhaus auf dem Dom stand
an Stelle der heutigen Probstei. Am Langenbrückertor unterscheiden wir deutlich
die alte Lange Brücke, sie war nach der Stadt zu von einer kurzen Zugbrücke
unterbrochen. Der südliche Teil der Insel war, wie wir sehen, damals noch
unbebaut. Auch die Seestraße fehlt noch auf dem Bilde. Nur eine Allee von Bäumen
scheint sich
um das Süd- und Westufer der Stadt herumzuziehen.
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Das bescheidene kleine "Konterfey" liefert uns einen wertvollen
Beitrag zur Kenntnis des damaligen Stadtbildes, das wir uns im übrigen nur nach
weit älteren Stichen und nach einigen uns erhaltenen Stadtplänen rekonstruieren
müssen. Es ist bei aller Kleinheit und Unbeholfenheit der Zeichnung ein Blatt,
dem wir mit Recht unser Interesse schenken.
G.
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