Lauenburgische Heimat
[Alte Folge]
Zeitschrift des Heimatbundes Herzogtum Lauenburg e. V.
1928
Möllner Vagelscheeten.
Von E. Reinicke, Ratzeburg.
Vagelscheeten - Vogelschießen, wer es nicht
kennt, nicht mit erlebte, hat noch nicht tief genug in das Herz
der norddeutschen Kleinstadt geschaut; wem bei dem Klang des
Wortes nicht ein Lächeln durchs Herz huscht, hat noch nicht tief
genug in ein norddeutsches Kinderherz gesehen. Vagelscheeten - wenn man auch wochenlang vorher nach dem Barometer sah und eifrig versuchte, aus den schwarzen Schlangenlinien und den großen Zahlen der Wetterkarten iu der Zeitung gutes Wetter zu prophezeien - alles das versinkt mit dem ersten Trommel- und Pfeifenklang der stolzen Kapelle, die zum Wecken durch die Straßen zieht. Es kommt nicht mehr darauf an, ob Wolken ziehen oder Sonnenschein strahlt. Es schadet auch nichts, daß man das "Weck-Blasen" schon seit Wochen tagsüber, abends, ja sogar im Schlaf noch hörte als Vorübung - heut klingt es anders, neu und schön - heute! Wie das neue weiße Kleid strahlt, wie die goldenen und silbernen Litzen am Sonntagsanzug funkeln! Die Mutter muß den Kranz noch feststecken, muß an den Blumenbügel denken, steckt noch schnell das Taschentuch ein - ach, vor der Mutter, vor den Tanten und Großmüttern zu Haus ist man die Schönste, die Hauptperson, wird man gewiß "Königin". Und nun tritt man aus dem Hans, trifft die andern, eilt zum Sammelplatz - und plötzlich ist man nicht mehr dieselbe wie zu Haus, nicht mehr die Schönste, die Hauptperson, man ist mitten zwischen Minchen und Linchen, Herta und Gretchen ein kleiner Punkt in all dem strahleuden Feiertag um einen herum, und die Wellen des Festtages reißen einen mit fort. Wie herrlich geht es sich im langen Zuge unter dem Blumenbügel. Wie leicht tragen die Jungens den schweren Bogen, wenn die Musik so schneidig spielt. Gibt es wirklich Menschen, die davon sprechen, auf holperigem Pflaster durch alle Gassen nnd Gäßchen, das wäre zu anstrengend! Ach, solche Menschen wissen eben nicht, daß Vater und Mütter, Großeltern und Urahnen schon so durch das Städtchen zogen, und daß keiner vernachlässigt werden darf, daß an jedem Häuschen der Zug vorbei muß; daß jedes alte Herz wieder einen frischen Trunk tun will aus dem Jungbrunnen des "Vagelscheeten". - Weiter geht es auf sandigen Wegen vor die Stadt hinaus auf die Vogelweide. Glaubt nur nicht, daß es jenen beiden uralten Mütterchen, die dort neben den hellen Kindergestalten mühsam durch den mahlenden Sand stapfen, glaubt nicht, daß es ihnen ernst ist mit dem Schelten über den langen Weg. Kein Mensch überredete sie, mitzukommen; keiner würde ihre Gegenwart entbehren - aber die Erinnerung treibt sie und macht sie stark und zähe. Hört Ihr das Schießen der großen Jungens? Seht Ihr, wie alles lacht beim Sacklaufen der Kleineren dort unter den Ulmen? Hohl schallt der alte Topf, den die Mädchen mit Todesverachtung und Aufbietung aller Kraft zu treffen versuchen, und: "Bischen weiter links", "man zu, min Deern", "nee, nee, toseggen giwt dat nich, dat is schummeln!" so rufen aufgeregte Mütter und Tanten. Schwunghaften Handel treiben die Kringelbuden und "Brause-Limonade"-Verkäufer. Bis plötzlich ein starker Tusch das Summen und Surren unterbricht. Der König, der Schützenkönig! Da auf dem Tisch steht er, die silberne Uhr als Königspreis in der Hand, umjubelt und geehrt - mit traurigem Gesicht. Traurig? Ach ja, er wollte doch so gern Tambour bei der Musik werden, und nun ist er bloß König. O Jungensherz, so bringt dir das Leben Erfüllung und Entsagung in einem Atemzng. Schwer hat es jetzt die Musik, jede Gruppe bekommt ihren König, ihre Königin, und 1928/4 -138
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