Die Sage umwebt tote Dinge wie alte Gemäuer,
ob zerfallen oder nicht, mit üppigen Ranken gleich wie mit
immergrünem Efeu und wilden, dornigen Röselein. Des
Überirdischen ist sie so mächtig wie des Unterirdischen, wenn's
nur recht gruselig ist. Nicht selten ist in dem, was sie durch
die Jahrhunderte vom Mund zu Munde trug, was sie ausschmückte
oder verzerrte, ein Körnlein Wahrheit. So auch in den Sagen von
den unterirdischen Gängen unseres alten Domes.
Der hat schon zu alten Zeiten reiche Schätze aufzuweisen gehabt.
Nach denen schielte und lüsterte Begehrlichkeit von jeher. Nicht
immer sind Zeit und Möglichkeit vorhanden gewesen, sie vor
böslichem Zugriffe in Sicherheit zu bringen, etwa hinter die
schützenden starken Mauern Lübecks, wie es in der Tat wiederholt
geschehen ist. Ebenso aber wie für die Kleinodien des
Kirchenschatzes mußten die Menschen, die zum Dome gehörten, auf
ihre eigene Rettung bedacht sein, wenn Gefahr im Verzuge. Das
Gotteshaus war keine ECCLESIA MILITANS, keine streitbare Kirche,
und das Kapitelhaus keine feste Burg. Zu ihrer Verteidigung gab
es nicht Mauern und Gräben, sogar nicht einmal die notwendigsten
Waffen. Ihr Schutz war der weltlichen Macht anvertraut, und die
war böse! In kaum mehr wie Steinwurfsweite jenseits der
Domhofgrenze dräuete die düstere Ratzeburg, das feste Schloß der
Lauenburger Herzöge, die sich im Laufe der Zeit nur zu oft dem
Stifte unfreundlich und gewalttätig erwiesen haben.
Wie ein hungriger Fuchs lag der Neiding auf der Lauer, der dem
reichen Kaninchen nach dem güldenen Fellchen trachtete. Das aber
saß auf seiner Dominsel hinter der Schloßinsel gefangen wie in
einem Sacke. Darum schuf es sich in seinem Bau, dem Domhof,
Notröhren, unterirdische Gänge.
Die Sage dichtet nun den Mönchen in dieser Hinsicht gewaltige
Taten an. Unterirdische Gänge sollen von der Dominsel unter der
Stadt und dem ganzen Küchensee entlang bis nach Farchau, wo ja
anfangs ein Bischofsschloß stand,
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geführt haben; ebenso vom Dom durch den nördlichen Seearm nach der Baek hinüber;
und schließlich auch unter dem Ratzeburger Schlosse hindurch nach dem Kloster
auf dem St. Georgsberg.
Bei aller Hochachtung vor den mittelalterlichen Meistern, die den Dom schufen,
so etwas, wie die Untertunnelung der Elbe bei Hamburg in neuester Zeit,
vermochten sie doch nicht.
Immerhin steht folgendes fest: Im tiefen Keller der Dom-Apotheke, an deren
Stelle sich schon in früher Zeit eine Kurie, d. i. ein Domherrn-Wohnhaus befand,
ist deutlich der vermauerte Eingang eines unterirdischen Ganges erkennbar, der
domwärts führte. In dem Keller des Nebenhauses, Domhof Nr. 2,
einer alten Kasematte, ist ein vermauerter Zugang, der mit dem gleichen Gange in
Verbindung gestanden zu haben scheint. Noch in den 70er Jahren
vorigen Jahrhunderts sind Vettern der heutigen Besitzerin, die sich dessen noch
wohl erinnert, in den Gang eingedrungen. Schätze haben sie in ihm nicht entdeckt
und auch nicht festgestellt, wo er endet. Wegen seiner Gefährlichkeit wurde
damals des Ganges Öffnung vermauert.
An fünf oder noch mehr alte Keller des Städtchens und des Domhofes knüpfen sich
gleiche Sagen, so an den unter der alten Stadtkaserne, unter der Brauerei *)
und unter dem Häuschen zwischen dem Langenbrücker Damm und der Gasanstalt und
endlich noch an einen Kasemattenrest im Dom-Apothekengarten.
Dabei ist aber zweierlei zu bedenken: Erstlich mal war Ratzeburg lange Zeit
hindurch Festung. Deren Werke wurden sogar noch 1690 nach allen
Regeln Vaubanscher Festungsbaukunst aufgeführt und mit bombensicheren,
unterirdischen Gewölben, Kasematten, Munitionsdepots versehen. Fest und schön
gemauert blieben diese auch dann erhalten, als die Wälle wieder verschwanden und
die Festung geschleift, oder wie man in Ratzeburg noch heute weiß, "demoliert"
wurde.
Zweitens dürfen aber große alte Keller nicht Wunder nehmen in einer Stadt, die
zeitweise bis zu 70 Brauereien zählte, in denen das vielgeliebte
Rommeldeus gebrauet wurde, mit dem man schwunghaften Handel trieb.
Kosten verursachende Untersuchungen, ob etwa, wie behauptet wird, jene Keller
mit dem Dom in Verbindung stehen, hat aber noch niemand anstellen wollen: auf
den sagenhaften Schatz hin, den so mancher dabei erträumt, wird auch schwerlich
die Landesbank Kredit bewilligen.
Vom Kapitelhause sind nur Teile des nördlichen Flügels unterkellert. Auch hier
geht die Sage von einer unterirdischen Verbindung mit dem Dom.- Den schönsten
der Keller hat M's Weinhandlung inne. In dessen hinterster Ecke befindet sich
oben in der Wand ein Loch, durch das man ineinblicken kann in einen düsteren,
fast ganz verschütteten steinernen Gang. In den hatte sich noch niemand gewagt.
Das ist doch aber mal was für Schatzgräber und Forscher!
Eines Tages also - es ist noch nicht so lange her - machen sich zwei daran,
diese Geheimnisse zu ergründen. Nach einigen turnerischen Kunststücken, hinweg
über die glucksenden Stückfässer, schlängeln sie sich durch die enge Luke, um
einer nach dem anderen jenseits der Wand bis zu den Ellbogen in uralten Schutt
und Staub hineinzuplumpsen.
Das Knipslicht zwischen den Zähnen, bewaffnet - für alle Fälle - mit Hammer und
Brecheisen, krauchen sie auf allen Vieren hinein in den unheimlichen Schlund. An
der rechten Seitenwand, hinter der die alten Mönche in längst verschütteten
Gräbern des Kreuzganges schlummern, zeigen sich vermauerte Rundbögen.
Nach kurzer Zeit stößt der Gang geradeaus auf eine steinerne Wand, doch nach
links führt er weiter, leicht ansteigend. Unter dem Schutte werden Stufen einer
schmalen Steintreppe bloßgelegt. Diese führt zu einer ganz altertümlichen
vermauerten Rundbogenpforte. Ein Hammerschlag läßt deren Wand dumpf und hohl
erdröhnen. Überrascht gucken sich die beiden an. "Hier im Hause", flüstert der
eine, "weiß ich doch von Kind an Bescheid; hier hinter liegt keiner der
bekannten Keller; das ist ein ganz unbekannter Raum!"
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*) In den Lauenburgischen Heimatblättern erzählte uns Udo v. Rundstedt
aus alten Archivakten über die Zeit des siebenjährigen Krieges. Die Kasematten,
die er erwähnt, decken sich mit den eben erwähnten Kellern.
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Der muß also genau untersucht werden. Hammer und Meißel werden angesetzt.
Endlich gelingt es, ein Ziegelstück oben in der Wand zu lockern. Erst rieseln,
dann prasseln hinter der Wand Mörtel- und Steinbrocken nieder. Ha, was war das?
Das klang ja, als fielen sie auf Metall! Die Öffnung wird erweitert, daß man in
den Raum hinter der Wand hineinleuchten kann. Das staunende Auge blickt in einen
dunkelen, engen, gewölbten Raum, der sicher nicht größer ist als eine Gruft. Hu!
eine Grabkammer! Kein Zweifel mehr; die Steine vorhin schlugen auf einen alten
Sarg. Durch das erweiterte Loch wird die Hand eingeführt, forschend, tastend.
Unterhalb des Loches berührt sie den Rand eines breiten, leeren, steinernen
Kruges. Verdächtig, höchst verdächtig! Eine Totenurne? Ein nochmaliger Blick
durch das Loch nimmt jetzt an der Wand ein seltsames Gefäß wahr; aus ihm ragen
vertrocknete Blumen und Gräser heraus. Grabesschmuck? Aber das Gefäß sieht doch
etwas sehr neuzeitlich aus, wie eine Blumenvase. Nun. die mag es auch früher
gegeben haben.
Was nun? Der Wissensdurst muß bezähmt werden. Ehe wir die ganze Wand
einschlagen, müssen wir zum mindesten die Hohe Obrigkeit befragen.
Leise, vorsichtig, um die Ruhe der Toten nicht weiter zu stören, wird der
Rückzug angetreten. Mit einigen Beulen und Schrammen an Kopf und Beinen wird der
Ausgang glücklich wieder gewonnen. Wie atmet es sich doch leichter im
Sonnenlicht als im Moder verfallener Grüfte!
Just kommt da der Herr Kantor des Weges daher. Der wohnt ja auch hier im
Kapitelhause. "Was halten Sie denn von unserer Entdeckung?" Der überlegt nicht
lange: "Wo Sie da eingebrochen sind, das kann ich Ihnen genau sagen. Das ist -
die Speisekammer meiner Frau! Und der eherne Sarg - das ist nichts anderes als
ein alter blechener Kochtopf!" -
Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Eine Hohe Obrigkeit
belustigte sich dermaßen über diese Geschichte, daß sie sie weitererzählte und
dabei ausschmückte wie etwa ein Märlein aus 1001 Nacht. Da drehte
Frau Fama, die zungengewandte, stracks den Spieß um: Fortan bis in alle Zukunft,
solange es noch Domgeschichten gibt, ist der enttäuschte Forscher, der anstatt
in ein güldenes Schatzkästlein mitten hinein greift in den vollen
Saurengurken-Topf - die Hohe Obrigkeit selbst!
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