Die Geschichte der St. Petrikirche im
Mittelalter ist bisher noch nicht erschöpfend und vollständig
dargestellt worden. Die von Professor Hellwig in der Chronik der
Stadt Ratzeburg angegebenen Daten und Tatbestände gehen nicht
über die Forschungsergebnisse des Geschichtsschreibers über die
Diözese Ratzeburg, des gelehrten Schönberger Rektors hinaus.
Masch hat nur im Rahmen seines großangelegten Werkes (Geschichte
des Bistums Ratzeburg. 1835) das Material
auswerten können, das jetzt gedruckt bis zum Jahre 1400
in vollem, noch bereichertem Umfange in den Mecklenburgischen
Urkundenbüchern (zitiert M. U. B.) zugänglich ist; gerade die
neu veröffentlichten, bisher unbenutzten und andere ungedruckte
Urkunden in den Archiven Kiel und Neustrelitz geben ein klares
Bild von den mittelalterlichen kirchlichen Verhältnissen der St.
Petrikirche. Die zum ersten Male ausgebeutete
Kirchenvisitationsordnung um 1400 (M. U. B.
XXIV, Nr. 13 738) ermöglicht
eine zuverlässige Darstellung des gesamten kirchlichen Lebens in
einer Stadtpfarrei des Bistums Ratzeburg..
Die Überlieferung über die St. Petrikirche ist sehr dürftig; die
große Feuersbrunst im 16. Jahrhundert, die das
Rathaus in Schutt legte, verwandelte alle Privilegien und
wertvolle Kirchenbücher in Asche, so daß wir keinerlei
Aufzeichnungen von Stadtpfarrern über die St. Petrikirche
besitzen.
Als schon der Dom den Norden der Insel einige Jahrzehnte lang
zierte, wurde im Mittelpunkt, auf der höchsten Erhebung des
Eilandes, um 1200 die St. Petrikirche erbaut, wie
Pastor Fischer-Hübner durch die Untersuchung des Baustils
nachgewiesen hat (Lauenburgische Heimat 1928, S.
73-76). Damals war die 1158
bekundete Absicht Heinrichs des Löwen Wirklichkeit geworden, den
von Natur befestigten Stützpunkt zu einer Stadt auszubauen und
mit einer Pfarrkirche zu schmücken; denn bei der Bestimmung der
kirchenrechtlichen Ver-
1931/1 - 19
1931/1 - 20
hältnisse in der Diözese Ratzeburg überließ der Herzog dem
Bischof auch das Patronat "über die auf der Insel zu errichtenden Kirchen" (M.
U. B. I, Nr. 65). Die Inselbevölkerung war so
angewachsen, daß die Herauslösung aus dem alten Pfarrbereiche der St.
Georgsberger Kirche notwendig wurde. Die dem Patron der Fischer, dem heiligen
Petrus, geweihte Kirche wurde das weithin sichtbare Wahrzeichen der Stadt.
Da der Herzog von Sachsen Grundherr der Insel war, stellte er die Mittel für den
Kirchenbau zur Verfügung und stattete die Pfarrei mit Einkünften aus. Kirchliche
Rechte standen aber den Herzögen nicht zu.
Wie bereits erwähnt, war der Bischof der Patron der St. Petrikirche, d. h. er
bestimmte den Pfarrer und genoß die überschüssigen Pfarreinkünfte. Das
bischöfliche Patronat währte nicht lange; denn 1301 (M. U. B.
V, Nr. 2759) gehörte die St. Petrikirche schon längere
Zeit zur domkapitularen Tafel. Es wurde also auch die St. Petrikirche wie die
St. Georgsberger und Schlagsdorfer aus wirtschaftlichen Gründen zur Aufbesserung
der Kapitelseinkünfte und zur Versorgung von Domherren dem Tafelgut des
Domstiftes einverleibt.
Die Patronatsrechte wurden dem Kapitel in der ersten Hälfte des 15.
Jahrhunderts unter dem Schutze der mächtigen Stadtherren von der erstarkten
Stadt genommen, die der allgemeinen Entwicklung in den deutschen Städten folgend
die "Selbständigkeit innerhalb der reinen kirchlichen Verhältnisse" erstrebte.
Der Pfarrer wurde dann vermutlich vom Rate der Stadt gewählt; die überschüssigen
Einkünfte fanden für soziale Zwecke der Gemeinde Verwendung. Zwischen 1410
und 1444 trat diese Veränderung ein. Während in den ab 1444
erhaltenen, im Hauptarchiv Neustrelitz aufbewahrten domkapitularen
Wirtschaftsbüchern alle Einkünfte aus den anderen Pfarrkirchen des Stiftes
eingetragen sind, buchte der Finanzbeamte des Kapitels nie eine Einnahme von der
St. Petrikirche, die noch 1410 dem Kapitel zufloß. Der Bischof
wahrte bis gegen Ausgang des Mittelalters seine kirchlichen Hoheitsrechte über
die St. Petrikirche. Aus dem Bischofseid von 1511 ersehen wir, daß
der Bischof die Gerichtsbarkeit über die Geistlichkeit in St. Petri an den
Dekan, also das Kapitel, hatte abtreten müssen.
Alljährlich wurde die Pfarrei vom Bischof visitiert. Zwei Kirchenvisitationen
aus den Jahren 1374 und 1382 sind urkundlich (M. U.
B. XVIII. Nr. 10 534 und XX,
Nr. 11 437) belegt. Sie fanden nicht in der
Petrikirche statt, sondern der Ratzeburger Pfarrer und die Kirchengeschworenen
begaben sich zum Dom, wo sie die Fragen des Bischofs über den religiösen und
wirtschaftlichen Zustand der Pfarrei beantworteten. Daß die Visitationen als das
beste Kontrollmittel für eine gute, einheitliche kirchliche Verwaltung galten,
beweist die Visitationsordnung von 1400, in der die bis in alle
Einzelheiten der kirchlichen Verhältnisse gehenden Fragen genau festgelegt sind.
Im 15. Jahrhundert schlief diese heilsame Einrichtung ein, die von Luther neu
entdeckt, 1564 auch in unserem Lande wieder eingeführt wurde.
Der Ratzeburger Pfarrer war bei Strafe der Exkommunikation verpflichtet, alle
bischöflichen Verordnungen und Befehle auszuführen. Am 23. Februar
1374 beauftragte der Leiter der Diözese die Pfarrer von Ratzeburg,
Mölln und St. Georgsberg, den wegen Unzucht und anderer Vergehen hart
angeklagten Domherrn Hildebrand vor seinen Gerichtshof in Schönberg zu laden,
beziehungsweise bei Erfolglosigkeit an den nächsten Sonn- und Feiertagen während
der Messe dem Volke die Exkommunikation dieses abtrünnigen Ordensmannes zu
verkünden. Der bischöflichen Aufforderung entsprechend hatten alle Pfarrer "zum
Zeichen der Ausführung" die Urkunde ihres kirchlichen Oberherrn besiegelt; so
fügte auch der Ratzeburger Pfarrer sein Privatsiegel bei, von dem nur das Wachs,
nicht das Siegelbild vorhanden ist. (Erhalten ist nur das Privatsiegel von Otto
von Grönau 1335, M. U. B. VIII, Nr. 5581.)
Der Pfarrbereich umfaßte im Mittelalter wie heute Stadt- und Landgebiet;
Pfarrkinder waren die Einwohner der Stadt Ratzeburg und des Dorfes Dermin
1376 (M. U. B. XIX, Nr. 10 896),
das um 1230 nach dem Zehntenregister (M. U. B. I, Nr. 375)
noch zur Pfarrei Schmilau gehörte.
Die Angaben über die Ausstattung und die Einnahmen der Pfarrei sind gering.
1335 betrugen die jährlichen regelmäßigen Einkünfte des Stadtpfarrers
dreizehn Mark (M. U. B. VIII, Nr. 5613). Aus der
Kirchenvisitations-
1931/1 - 20
1931/1 - 21
ordnung geht hervor, daß alle Pfarrinsassen "zu bestimmten
Zeiten des Jahres", d. h. an den Hochfesten Abgaben, "Kirchensteuern" in Höhe
von viertel und halben Pfennigen zahlten; ebenfalls mußten sie für die
Amtshandlungen des Pfarrers Gebühren entrichten; freiwillige Spenden machten
einen nicht unbeträchtlichen Teil der Einnahmen aus. Ziemlich genau unterrichtet
sind wir über die Verwendung der überschüssigen Pfarreinkünfte, die nach Abzug
der CONGRUA PORCIO (d. h. eines angemessenen Teils für den Lebensunterhalt des
Pfarrers und die kirchlichen Unkosten) noch übrig blieben und dem Domkapitel
zuflossen. In erster Zeit wurden sie nach der Speiseordnung von 1301
für Aufwendungen an Brot und Bier für die Domherren verbraucht. Um 1330
(gleichaltrige Abschrift, Hauptarchiv Neustrelitz) erhielt bei der Neuordnung
der Pfründen der Prior "vor den anderen Kanonikern" 4 Mark DE
PENSIONE ECCLESIE SANCTI PETRI IN CIVITATE RACEBURGENSI. 1410 März
26. (Original Hauptarchiv Neustrelitz) kaufte der Domherr Ghert
Bretzeke vom Kapitel für 100 Mark eine Rente von 6
Mark, "de wy hebben van huse (niederdeutsche Bezeichnung für Überschuß aus den
Pfarreinkünften) van unser kerken to sunte Petere in der stad to Raceborch".
Später wurde bekanntlich der Restbetrag dem Domkapitel nicht mehr gezahlt.
Über die Verwaltung der Ratzeburger Pfarrei gibt uns eine Urkunde von
1326 (M. U. B. VII, Nr. 4794) genaue
Auskunft, in der der Herzog von Sachsen-Lauenburg der domkapitularen Tafel die
Mustiner Kirche einverleibt; nämlich die Mustiner Pfarrei sollte verwaltet
werden, "wie es die ORDINACIO des Kapitels über die Kirchen von St. Petri in
Ratzeburg, St. Georg und des Dorfes Schlagsdorf bestimmte". Von dieser
Verordnung sind die wesentlichen Punkte kurz angegeben. Da ja für die Ausübung
der meisten kirchlichen Handlungen die Priesterweihe erforderlich war, mußte der
Pfarrer "ein ewiger ^presbyter", d. h. Priester sein. Die Seelsorge sollte
entweder durch einen Welt- oder Ordensgeistlichen oder durch zwei
Kapitelsmitglieder ausgeübt werden; jedoch wurde die St. Petrigemeinde nie von
zwei, sondern immer nur von einem Domherrn betreut. Schon aus den wenigen
urkundlichen Belegen können wir den Schluß ziehen, daß in den ersten zwei
Jahrhunderten Ratzeburger Domherren Pfarrer von St. Petri gewesen sind. Aus der
Chronik METROPOLIS IX, 8 (Frankfurt a. M .
1576) des berühmten Rostocker Universitätslehrers erfahren wir, daß sich
unter Bischof Marquard (1309-35) ein Domherr der
Seelsorgetätigkeit widmete. Um 1335 war Otto de Gronowe, ein sehr
fähiges Kapitelsmitglied (später Prior und Bischof), Pfarrer. Der letzte uns
urkundlich bekannte (1382) Seelsorger ist der Stiftsherr
Fridericus Smethusen. Seit dem Anfang des 15. Jahrhunderts, als
das Domkapitel vom Papste 1401 April 21. (Original
Hauptarchiv Neustrelitz) die Besetzung der ihrer Tafel einverleibten
Pfarrkirchen mit Weltgeistlichen erwirkte, erfüllte nicht mehr ein Domherr,
sondern ein vom Kapitel, später vom Rat der Stadt bestellter Geistlicher die
Seelsorgerpflichten.
Die Frage in der Visitationsordnung, ob der Pfarrer "IN SUO HOSPICIO GESSIT", d.
h. sich in seiner Amtswohnung aufgehalten, bestätigt die selbstverständliche
Tatsache, daß der Pfarrer zusammen mit den niederen Geistlichen und der
Wirtschafterin im Pfarrhause wohnte.
Die Leitung der Pfarrei in geistlicher und weltlicher Hinsicht war in der Hand
des Pfarrers konzentriert; seiner Aufsicht unterstanden der Kirchenvorstand, die
anderen Geistlichen und der Küster der Kirche. Seine vornehmste und schönste
Aufgabe war die Seelsorge, durch die er einen maßgebenden Einfluß auf das
religiöse, sittliche, geistige und auch wirtschaftliche Leben der Pfarrkinder
hatte. Er war verpflichtet, an Sonn- und Festtagen Messe und Predigt zu halten;
er vollzog die Taufen, Eheschließungen, hörte die Beichte und legte den
Beichtkindern die gebührenden Strafen, Beichtpfennige usw. auf. Er erteilte die
letzte Ölung und bestattete die Toten.
Bei der Kirchenvisitation von 1382 begegnet uns urkundlich zum
ersten Male ein CAPELLANUS, ein Hilfsgeistlicher, über dessen Lebenswandel sich
der Bischof erkundigte. Als der Pflichtenkreis des Pfarrers zu groß ward, wurde
zur Unterstützung des Hauptgeistlichen ein Kleriker angestellt.
Von den Vikaren, d. h. Geistlichen, deren Haupttätigkeit in der Zelebrierung
einer täglichen Messe für das Seelenheil verstorbener Familienmitglieder des
Stifters bestand, ist uns nur einer, Andreas Wagendriver, aus
1931/1 - 21
1931/1 - 22
einem Rentenbrief der Herzöge Bernd und
Johann von Sachsen-Lauenburg vom 31. Oktober 1455
(Original Kieler Staatsarchiv) bekannt; dieser "Meßpfaffe" war ein tüchtiger,
gewissenhafter Mann, da er später noch zum bischöflichen Kanzler aufstieg.
Der "Glöckner oder Küster" (CAMPANARIUS SEU CUSTOS) läutete die Glocken "an den
Festtagen der Heiligen und bei den Begräbnissen". Er sorgte für die
Säuberung der Kirche und hob die Gräber aus. Alljährlich mußte der Küster dem
Pfarrer eine Weinspende machen.
Dem Pfarrer standen zunächst als Berater, dann auch als Verwalter der
wirtschaftlichen Angelegenheiten die IURATI, die Kirchengeschworenen, zur Seite.
Da der heutige Kirchenvorstand noch dieselben Funktionen wie die
mittelalterliche Laienvertretung inne hat, besteht hier eine gerade,
unveränderliche Linie zwischen Mittelalter und Neuzeit. Um 1400
lag die Verwaltung des Kirchengutes und der Einkünfte in seinen Händen.
Das kirchliche Leben, der Verlauf und die Beteiligung an den privaten und die
ganze Gemeinde betreffenden kirchlichen Feierlichkeiten war nach genauen
Satzungen geregelt. An den Sonn- und Festtagen waren nach der Visitationsordnung
"die Bürgermeister, die Ratsherren und alle anderen Laien" zum Kirchenbesuch
verpflichtet; jeder mußte einmal im Jahre dem Priester beichten.
Das Interdikt, das große Machtmittel zur Wahrung der kirchlichen Autorität, war
besonders für die Bestattung folgenschwer. Während solcher Strafzeit durften die
Toten nicht aus dem Kirchhof, sondern nur außerhalb beigesetzt werden; nach
Aufhebung des Interdiktes wurden die Verstorbenen dann auf dem Gottesacker der
St. Petrikirche feierlich zur letzten Ruhe gebettet.
Von der Opferfreudigkeit und dem frommen Eifer der Ratzeburger Bevölkerung sind
uns nur zwei Zeugnisse erhalten. Die beiden Figuren Maria und Johannes, die auf
dem Altar der neuen St. Petrikirche seit 1929 neben einem kleinen
Kruzifix sinnvoll aufgestellt sind, standen im Mittelalter zur Seite eines
großen überragenden Christuskreuzes.
"de zelighe Johan Plote wandeghes (früher) borghermester" stiftete nach der
genannten herzoglichen Urkunde vor 1455 für das Seelenheil seiner
Familie
eine Vikarie, d. h. eine tägliche Messe am Altar Symonis unde Jude Katherine
unde Margarete; er stattete die Meßpfründe mit 300 Mark, die dem
Geistlichen
jährlich 20 Mark Renten einbrachten, aus.
Wenn auch die St. Petrikirche schon rein äußerlich von dem wuchtigen Dom
überschattet wurde, so hat sie doch für die Inselbewohner als religiöse
Kraftquelle gerade durch die so wichtige seelsorgerische Wirksamkeit des
Stadtpfarrers mehr bedeutet als der prächtige, große Meß- und Chordienst der
zahlreichen Domgeistlichkeit.
|