Die alten Wandmalereien sind allmählichem
Untergange verfallen. Sonne und Feuchtigkeit bleichen und
verwischen sie mehr und mehr,- der unvermeidliche Besen aber
gibt ihnen den Rest. Verdanken wir doch die bisherige lange und
gute Erhaltung dieser Bildergruppen in ihren Hauptteilen nur dem
Umstande, daß sie jahrhundertelang allen Angriffen durch
Übermauerung entzogen waren. Erst 1895 hat sie ein
Zufall aufgedeckt (s. "Lauenb. Heimat" 1931, Heft
1). Dabei ist bemerkenswert, daß das jüngste der
Bilder, das erste, das damals neu entstehen mußte, weil das alte
völlig zerstört war, sich am wenigsten gut erhalten hat. Die
alte Malweise hat sich also widerstandsfähiger
erwiesen als die neue. Unser Altmeister in der Kunst der
Erhaltung der Altertümer, Prof. Haupt, hält wegen der
zunehmenden Zerstörung ein Festhalten des Inhalts der Bilder und
ihrer Inschriften für geboten.
Die sechs ausgemalten frühgotischen Fensterblenden der Innenwand
des nördlichen Kreuzganges zeigen als Bemalung eine jede ein
dreiteiliges Gemäuer, dessen gotische Spitzbögen von Kreuzblumen
gekrönt und deren mittlerer Teil turmartig überhöht ist. Die
drei Teile sind wiederum quergeteilt, so daß jede der 6
Bildgruppen 6 Teilbilder aufweist. Zusammenhängend
versinnbildlichen sie den christlichen Glauben und die
Heilslehre. Spruchbänder und Unterschriften in gotischer
Minuskelschrift erläutern den Sinn der sehr einfachen Malerei.
Die zweimal sechs Mittelbilder dienen dem Gottesgedanken,
Gottvater, Sohn und Heiliger Geist. Ihre In - und
Unterschriften:
I
|
oben: "CREATOR CELI ET TERRE" =
der Schöpfer Himmels und der Erde, im Bilde: die
Hand Gottes aus den Wolken weist auf die Erde, die
von allerlei Getier bevölkert ist. - I
unten: "ANNUNCIATIO" = Mariae Verkündigung durch
eine vom Himmel herniederflatternde Taube und einen
Engel. (Bildgruppe I ist, wie schon
erwähnt, neu, von Occolowitz, 1899.) |
1931/4 - 124
1931/1 - 125
II |
oben: "NATIVATIS DOMINI JESU XPI"
= Christi Geburt, dargestellt durch die Gottesmutter
und das Jesusknäblein. "ET EGREDITUR VIRGO DE RADICE
JESSE" = Die Jungfrau ist entsprossen der Wurzel
Jesse. (Es ist der Ursprung des uralten schönen
Weihnachtsliedes: "Es ist ein Ros' entsprungen aus
einer Wurzel zart.") - II unten:
"PASSIO DOMINI JESU XPI" = Kreuzigung Christi. "EGO
HOC PATIOR LIBERARE POPULOS" = Durch mein Leiden
werden die Völker erlöset, "VIDE, SI EST DOLOR
SIMILIS" = Siehe, ob mein Schmerz einem anderen
gleichet.
|
III |
oben: "RESURRECTIO DOMINI JHESU
[sic!] XPI" =
Auferstehung: Christus entsteigt, die Kirchenfahne
in der Hand, dem Grabe. - III unten:
"ASCENSIO AD CELOS" = Himmelfahrt.
|
IV |
oben: "DIES JUDICII" = Tag des
jüngsten Gerichts: Aus dem Munde des thronenden
Weltenrichters fahren zwei Schwerter. - IV
unten: "SPIRITUS SANCTUS" = der Heilige Geist fliegt
als Taube, mit dem Heiligenscheine, über die Erde.
|
V |
oben: "ECCLESIA CATHOLICA" = in
einer Kirche nimmt ein Priester das Abendmahl. -
V unten:
[Anführungszeichen fehlt!] REMISSIO
PECCATORUM" = Vergebung der Sünden: ein Bischof
segnet Büßende, die vor ihm knien.
|
VI |
oben: "VITA ETERNA" = das ewige
Leben: Christus segnet Anbetende. - VI
unten: "RESURRECTIO MORTUORUM" = Auferstehung der
Toten am jüngsten Tage.
|
Die Gestalten der Bildteile rechts der Mitte (vom Beschauer
gesehen) stellen zwölf Propheten dar; ihre Spruchbänder enthalten ihre eigenen
Messianischen Weissagungen, die in innerem Zusammenhang mit den anderen Bildern
stehen.
I |
rechts oben: "JEREMIAS PROPHETA";
"FECIT TERRAM IN FORTITUDINE SUA ET PRUDENTIA SUA
EXTENUIT CELOS" =er schuf die Erde durch seine Kraft
und seine Weisheit, wölbte darüber den Himmel
(entspr. Jerem. 10 V. 2).
- I rechts unten: "DAVID REXS";
"DOMINUS DIXIT AD ME ..." (verlöscht).
|
II |
rechts oben: YSAIAS PROPHETA
NARRAT: ECCO VIRGO CONCIPIET ET
PARET FILIUM."
Der Prophet spricht: "Siehe, eine Jungfrau ist
schwanger und wird einen Sohn gebären." (Jesaia
7 V. 1.) - II
rechts unten: "ZACHARIAS PROPHETA"; "ASPICIENT OMNES
IN EUM QUEM CRUCIFIXERUNT" = Es richten die Blicke
alle Menschen auf den, welchen sie ans Kreuz
geheftet. (Zacharia 12 V. 10.)
|
III |
rechts oben: "OSEAS PROPHETA". "O
MORS, ERO MORS TUA, MORSUS TUUS ERO INFERNE" = O
Tod, dein Tod werde ich sein. Hölle, ich werde dich
überwinden. (Hosea 13 V. 14).
III rechts unten: "AMOS PROPHETA".
"EDIFICAT IN CELI ASCENSIONEM SUAM" = Er ist's, der
seinen Saal in den Himmel bauet. (Amos 9
V. 6.)
|
IV |
rechts oben: "SOPHONIAS
PROPHETA"; "ACCENDANT AD VOS IN JUDICIO ET ERO
TESTIS VELOX" = Sie flammen auf zu eurem Gerichte,
und ich werde ein schneller Zeuge sein. - IV
rechts unten: "JOEL PROPHETA"; "EFFUNDUM DE SPIRITU
MEO SUPER OMNEM CARNEM" = Und ich will meinen Geist
ausgießen über alles Fleisch . . (Joel 3
V. 1.)
|
V |
rechts oben: "MALACHIAS
PROPHETA"; "INVOCANT OMNES NOMEN DOMINI" = Alle
rufen den Namen des Herren an. - V
rechts unten: "MICHAJAS PROPHETA"; "MISEREBITUR
NOSTRI ET DEPONET INQUITATES NOSTRAS" " Er wird sich
unserer erbarmen und abtun unsere Ungerechtigkeit.
|
VI |
rechts oben: "EZECHIEL PROPHETA";
"EVIGILANT OMNES ALI AD VITAM
ETERNAM" =
Alle Anderen erwachen zu ewigem Leben. VI
rechts unten: "DANIEL PROPHETA"; "EDUCAM VOS POPULO
... AD VITAM ETERNAM" = Ich werde Euch zum Volke
(Gottes) machen, damit ihr ewiglich lebet. (Entspr.
Daniel 2 V. 44.) |
Die zweimal sechs Teilbilder, vom Beschauer gesehen links, stellen die 12
Apostel dar, erkennbar an den Unterschriften und ihren Attributen:
I |
o. |
Petrus mit dem Schlüssel. |
I |
u. |
Andreas mit dem schrägen
(Andreas-) Kreuze. |
II |
o. |
Jakobusmajor mit dem
kreuzgeschmückten Pilgerstabe. |
II |
u. |
Johannes mit dem Kelche. |
III |
o. |
Thomas mit dem Winkelmaße des
Zimmermannes. |
III |
u. |
Jakobus mit der Keule oder
Walkerstange. |
IV |
o. |
Philippus mit dem
Patriarchenkreuze (welches 2
Querbalken hat). |
IV |
u. |
Bartholomäus mit Messer und Buch. |
V |
o. |
Mathias mit Buch. (Es muß
Mathaeus heißen.) |
1931/4 - 125
1931/1 - 126
V |
u. |
Simon mit der Lanze. |
VI |
o. |
Mathias mit der Axt. |
VI |
u. |
Thaddaeus ebenfalls mit
Patriarchenkreuz. |
Sehr sinnreich und merkwürdig ist nun der Inhalt der Spruchbänder in den Händen
der Apostel. Zusammengefügt, geben sie das "Credo" (d. h. "ich glaube") wieder,
das apostolische Symbolum, welches als Glaubens- und Taufbekenntnis heute noch
den beiden großen christkirchlichen Glaubensgemeinschaften, der katholischen wie
der evangelischen, dient.
Petrus spricht:
"CREDO IN DEUM OMNIPOTENTEM, CREATOREM CELI ET TERRE"
(ich glaube an Gott, allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erde,)
Andreas fährt fort:
"ET IN JSEUM XPUM [sic!] FILIUM EIUS UNIGENITUM
DOMINUM NOSTRUM"
(und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unseren Herren,)
und die übrigen Apostel sprechen der Reihe nach:
"QUI CONCEPTUS EST DE SPIRITO SANCTO NATUS EX MARIA VIRGINI,"
(der empfangen ist vom Heiligen Geiste, geboren von der Jungfrau Maria,)
"PASSUS SUB PONTIO PILATO CRUCIFIXUS MORTUUS ET SEPULTUS,"
(gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuziget, gestorben und begraben,)
"DESCENDIT AD INFERNA TERTIA DIE RESURREXIT A MORTUIS,"
(niedergefahren zur Hölle, am dritten Tage auferstanden von den Toten,)
"ASCENDIT AD CELOS SEDET AD DEXTERAM PATRIS OMNIPOTENTIS,"
(aufgefahren gen Himmel, sitzet zur Rechten des allmächtigen Vaters,)
"INDE VENTURUS EST IUDICARE VIVOS ET MORTUOS".
(von dannen er kommen wird zu richten die Lebendigen und die Toten.)
"CREDO IN SPIRITUM SANCTUM, "
(Ich glaube an den Heiligen Geist,)
"SANCTAM ECCLESIAM CATHOLICAM SANCTORUM COMMUNIONEM,"
(eine heilige allgemeine, christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen,)
"REMISSIONEM PECCATORUM,"
(Vergebung der Sünden,)
"ET VITAM ETERNAM AMEN".
(und das ewige Leben. Amen.) - Zuletzt folgt:
"CARNIS RESURRECTIONEM" (des Fleisches Auferstehung.) *)
Nach einer gegen Ende des 4. Jahrhunderts hervortretenden Legende
des Rufinus (397) sollen dies Credo die 12 Apostel
zu Jerusalem gemeinsam vor ihrer Trennung verfaßt haben, ehe sie hinauszogen in
alle Welt, den Heiden das Evangelium zu bringen. So versinnbildlichen also die
Bilder die uralte Legende. Aber mehr noch. Unser Dom und das zu ihm gehörige
Prämonstratenser-Ordenskloster waren errichtet auf altheidnischer Opferstätte,
im heiligen Haine der Slavengöttin Siwa. Sie waren der Glaubensherd, die feste
Burg Gottes im jüngst erst unterworfenen, in dem noch zu bekehrenden
Polabenlande. Dadurch erhalten die Bilder noch eine tiefere Bedeutung. Denn es
ist wahrscheinlich, daß bei ihrem Entwurf die Erinnerung obwaltete an die
Bekehrung der Heiden und deren Taufe.
Aus triftigen Gründen haben wir die Malerei dem ausgehenden 14.
Jahrhundert zuweisen können (s. "Lauenb. Heimat", Heft 1). Gewiß
entsprechen die Bilder den heutigen Anschauungen von künstlerischer Schönheit
nur wenig. Kindlich harmlos muten sie an, beeinflußt von der scholastischen
Denkweise einer frühen Zeit. Für den Dom und seine Geschichte sind sie
unstreitig von hohem Werte. In ihrer schlichten Altertümlichkeit passen sie
trefflich in den Bau und gereichen ihm zu eigenartiger Zierde. Bei ihrer
Betrachtung bedauern wir, daß sich nicht mehr davon erhalten hat. Vielleicht
findet aber der Forscher da oder dort später noch mehr unter dem Leichentuche
neuerer Tünche, die die alten Wände bedeckt.
_______________
*) Es fällt auf, daß "CARNIS RESURRECTIONEM" hinter dem "Amen" steht statt vor
ihm. Das ist sicherlich nicht ohne Absicht geschehn. Jene zwei Worte bedeuten in
der Tat einen späteren Zusatz des ursprünglichen CREDO, der viel bekämpft worden
ist, wovon der alte Maler der Bilder Kenntnis gehabt haben wird.
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