Weit dehnt sich das Feld im prallen Glanz des
leuchtenden Sonnenballs - - Roggen drüben mit Ähren, die sich in
reifender Fülle schon demütig niederbeugen; daneben ein
Kleeschlag in saftigem Grün, von grellrotem Mohn wundersam
überblüht; weiter hinten ein breites Ackerstück mit Kartoffeln,
die in langen Reihen mit ihrem buschigen, dicken Kraut
schnurgerade ausgerichtet dastehen. Tiefe Stille ringsum. Nur
oben im blauen Äther tirilieren die Lerchen ihr
jubelnd-sehnsüchtiges Lied, das sich in die unendliche Weite des
göttlichen Geheimnisses verlieren möchte, und an dem granitenen
Findling raspelt eine kleine Heuschrecke emsig und trocken ihr
Schelp-Schelp. Manchmal regt sich ein lauer Windhauch von Osten
her und streichelt zärtlich diese schweigsam atmende,
sprießende, das lachende, lockende Dasein gebärende Natur. Dann
rauscht es leicht in den dunklen Wipfeln der drei Fichten auf
der Anhöhe, Korn und Mohnblumen neigen sich ein wenig, als
wollten sie davonwandern, und das zierliche Rispengras erzittert
leise und fein. Da hört man Schritte: Hinten, am Ende des Weges,
erscheint jetzt der Bauer, ein Nichts und doch Alles in dieser
endlos sich dehnenden Landschaft. Er ist kräftig gebaut und hat
breite, starke Hände, seine Bewegungen sind kantig-ungelenk und
doch sicher abgewogen, von schwerer, im Schweiße des Angesichts
vollbrachter Arbeit unweigerlich geformt. Sein Blick streift
hell und klar über Roggen und Rain, am Kleefeld hält er an und
nimmt gemächlich die blinkende Sense von der Schulter. Er holt
den Wetzstein hervor, und nun schallt in kurzen Schlägen,
scharf, unabwendbar und triumphierend, der Laut des Dengels über
die Flur - - Siegesgeläut des Menschen, der nicht nur sät,
sondern auch erntet, nicht nur hegt, sondern auch heimholt. Doch
bevor der Bauersmann die Sense zum weit ausholenden
ersten Zug durch den duftenden Klee rauschen läßt, blickt er
versonnen und prüfend hinüber zu seinem Hof, der hinter den
Kirschbäumen des
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Gartens freundlich hervorschaut. Aus dem
Schornstein des Hauses kräuselt sich bläulicher Rauch langsam empor: Dort
schafft das Weib des Bauern, kocht und wäscht, streut den Hühnern die Gerste
hin, wirft dem Vieh das Futter in die Raufen, stellt den Kindern die Suppe auf
den Tisch und hebt mit behutsamen Händen ihr Jüngstes aus der Wiege an die
Mutterbrust. Das ist Bauerntum. Ein Menschentum der Scholle, älteste Grundform
des Lebens, neben der höchstens noch der umherstreifende Jäger der Vorzeit mit
einiger Berechtigung genannt werden darf.
Aus diesem urwüchsigen, pflanzenhaften, an die Erde dahingegebenen Dasein des
Bauern hat sich alles andere, was es an Ständen und Berufen, an Titeln, Ehren
und Rangstufen, an Kristallisierungen, Mächten und Wirkungsformen des
menschlichen Zusammenlebens heute gibt, teils stürmend, teils zaghaft losgelöst,
und vielleicht war dieses Sichlösen eine Abkehr vom Paradies, ein Weg ins Dürre,
der Pfad zum grinsenden Tode: Aus dem Bauerntum hob sich der Adel heraus, zog
aus den fruchtbaren Niederungen hinauf auf die felsigen Bergkuppen, die er mit
seinen Burgen krönte und von denen er, den Pflug seinen Hörigen überlassend,
hinabzog, wenn es galt, das eiserne Gewaffen im Kampf zu erproben oder in
brausendem Zug hinter dem Hirsch durch den Wald zu jagen. Vom Bauerntum sonderte
sich der Bürgersmann ab; ihn zog der Marktflecken an, der verheißungsvolle
Mittelpunkt des Güteraustausches, und um diesen Markt baute er seine
spitzgiebeligen, schmalen Häuser dicht an dicht, nach diesem Markt strebten die
winkligen Gäßchen ringsum, diesen Markt umschützte er mit der Mauer; auf diesen
Markt brachte er alles, was er ersann, um das schlichte Dasein zu verfeinern, zu
vervollkommnen, zu tausend Bedürfnissen zu steigern; bald wurde dieser
Bürgersmann, mochte er auch ein Mensch der zusammengeschlossenen Masse sein und
darin seine Schwäche empfinden, selbstbewußt und stolz auf seine Eigenart; er
sah, daß alle, die den Markt besuchten, die Handelskontore betraten, das Geld in
der Truhe klingen hörten, unter seinen Bann gerieten. Dem Bauerntum entfremdete
sich der Priester in seinem hohen Dom, der Mönch in seiner engen Klosterzelle -
der Denker und der Gelehrte, der seinen Geist auf die Bahnen höchster Erkenntnis
lenkte, das Ewige nicht bloß erlebte, sondern rastlos auch durchgrübelte,
durchdachte, durchdiente und dem natürlichen Sein durch die Enthaltung von der
Ehe den Abschied gab. Der kühne Ritter, der marktende Bürger, der in innerem
Feuer sich verzehrende Geistesmensch - sie alle sind hergekommen vom Menschen
der Scholle, vom Bauerntum.
So ist die Geschichte der Bauerngeschlechter zweierlei: Die Geschichte der
mütterlichen Erde und die Geschichte des Abfalls von dieser Erde. Das weist jede
bäuerliche Chronik mit einer Gleichmäßigkeit und Zwangsläufigkeit auf, daß man
den Eindruck empfängt, vor etwas Schicksalhaftem zu stehen. Darum ist
Bauerngenealogie etwas Großes und Tiefes.
Wer zum Tor des alten Bauernhofes eingeht, spürt alsbald das Erdgebundene, das
hier sein Wesen hat: "Aus weichem Schlummer
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erwacht, umfängt ihn vertrautes,
selbstverständliches Leben mit wohliger Wärme, ihn umsummt das Lied
lustgeborener Arbeit, er durchschreitet das von ihr angesteckte Haus,- das
aufgestallte Vieh vermittelt eine fast beseelte Naturnähe, alle Türen stehen
bereits auf: Die Sonne hat ihren Lauf begonnen und läßt in der stets
schummerigen Scheune lebendige Lichterchen tanzen, das Hühnervolk reizt mit
Fanfaren zu freundlich drängender Arbeit auf." 1) All dieses
Schaffen ist von der Scholle bestimmt, nicht nur draußen auf Feld, Wiese und
Weide, sondern auch im Stall und in der Scheune, in der Küche und in der Stube.
Es vollzieht sich im Rhythmus der Natur, im Vierklang von Frühling, Sommer.
Herbst und Winter. Es ist unslösbar verbunden mit der ewig sich erneuernden
Zeugungskraft der Natur - mit dem Wachstum des Samenkorns in der dunklen Erde,
mit dem Lockruf der Glucke, die die Küken über den Hof führt, mit dem leisen,
ersten Blöken des neugeborenen Kälbchens im Stallstroh, mit den muntern Sprüngen
des Füllens, das neben dem Gespann einhertollt. Der Bauersmann ist selbst ein
Stück dieser gesunden, um stetige Erneuerung des Lebens ringenden Natur; er
"ersehnt Nachkommenschaft, Erben des Hofes und Eigentums, Blut vom eigenen
Blute, Gehilfen der täglichen Arbeit." 2) Lange Kinderreihen sind
daher ein untrügliches Kennzeichen im Ausbreitungsgang bäuerlicher Geschlechter.
Der kölmische Freie zu Gehdau (Ostpreußen) Martin TOLKMITT, der in Eichholz
1702 Anna LANGE ehelichte, hat folgende Kinder: Dorothea 1703,
Katharina 1704, Friedrich 1706, Anna 1708,
Maria 1710, Anna 1712, Elisabeth 1715,
Johann 1717, Regina 1719, Georg 1721,
Peter 1724, also insgesamt 11 Nachkommen, die in
einem durchschnittlichen Geburtenabstand von 26 1/2 Monaten das
Licht der Welt erblickten. 3) Ähnliche Zahlen finden sich im
Bauerntum alter Art überall, Kinderreichtum ist auf dem Bauernhöfe etwas
Selbstverständliches, regelmäßige Mutterschaft ist die Ehre für die Hausfrau,
und es gilt als befremdlich und als ein Unglück, wenn die Kinder ausbleiben. So
fließt der Strom des natürlichen Lebens daseinsfroh, ungehemmt und unbekümmert
durch die Geschlechter des Bauerntums. In diesem Sinne hat man es "ewig"
genannt. Es ist ewig wie die Erde selbst.
Doch in dies Starke, Große, Heilige, das wie ein mächtiges Rauschen die
Bauerngenealogie erfüllt, verflicht sich engmaschig etwas Gefahrvolles, ja etwas
Tragisches: der Abfall von eben dieser Erde, deren Odem die Wiege des
Bauernkindes umweht. Notwendigkeit und Neigung bewegten immer von neuem einzelne
Nachkommen, der heimatlichen Scholle zu entgleiten. Die Erbfolge, die nur einem
der Kinder den Hof an die Hand gibt, stieß die andern häufig in ärmliche
Tagelöhnerverhältnisse hinab, und ein unstetes Wanderleben entwurzelte den
Arbeitsmann bald; die Stadtmauern lockten,
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1) Vgl. G. D. OHLING, "Krine Klaassen van Olinga", Aurich,
Selbstverlag 1928, S. 19.
2) Vgl. JOHANNES ZACHAU, "Natangische Bauern", Selbstverlag,
Gehsen (Ostpr.) 1927, Preis 2 RM.
3) Vgl. Deutsches Geschlechterbuch, Band 61, C. A.
Starke, Görlitz 1928, S. 371 ff.
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weil sie leichtere Arbeit ums tägliche Brot und persönliche
Freiheit verhießen; das Kalbsfell wirbelte und warb, das Fähnlein der Soldateska
flatterte daneben abenteuerlustig im Winde, und der Bauernsohn vertauschte die
Pflugschar mit dem Lanzenschaft, um weit von dannen zu ziehen. So wurde das
Bauerntum Ausgangspunkt zahlloser Arbeiter-, Handwerker-, Patrizier-, Gelehrten-
und auch Adelsgeschlechter. Man beachte einmal die Lebenswege der neun Kinder
des Erbwöhners Johann Jürgen HUCHZERMEYER auf Lütken-Huchsen und seiner Ehefrau
Anna Magdalena STEINMEIER, die er 1762 heiratete: Johann Albert
hat sich freigekauft und wohnt in Reinkenohrde; Johann Hinrich wohnt zu
Tennigern auf WESSELS Stätte; Ernst Hinrich wohnt zu Bielefeld als Schuhmacher;
Johann Christian wohnt zu Levern auf HEYDENREICHS Hof; Johann Hermann ist Soldat
im Regiment Döhnhoff; Johann Samuel ist Anerbe; Tönnies Henrich ist Schuhmacher
zu Gohfeld; Anna Trine hat sich mit Johann AHLERDT verheiratet, und Anna
Magdalena Dorothea wohnt, wohl gleichfalls im Ehestande, auf Levin HUCKS Stätte.
4) Überall aber, wo Bauernblut sich von der Erde löst und
freizügig in andere Berufe und Standesschichtungen Übertritt, vollzieht sich
auch früher oder später eine Wandlung in der natürlichen Lebensführung: die
Ausbreitungskraft läßt nach, die Kinderzahlen werden geringer und setzen der
Lebensdauer des Geschlechtes engere Grenzen. Bis weit hinein ins 18.
Jahrhundert zeigt freilich auch das Bürgertum, der Stadtmensch noch in
überwiegender Mehrzahl gesunde und ziemlich regelmäßige Geburtenziffern in den
Familien, doch das lag eben daran, daß der starke Hauch der Erde damals auch in
den Stadtmauern noch einigermaßen ungehindert waltete. Dann aber wurde es
zusehends anders, und seit Jahrzehnten sind unsere Riesenstädte zu Haftzellen
und Totenkammern des Lebens geworden. Die Stammtafeln der Bauerngeschlechter tun
die beständige Abgabe von Blättern und Zweiglein an die Stadt, an die andern
Stände des Volksganzen vor dem Auge des Beschauers deutlich kund - den
immerwährenden Abfall von der mütterlichen Erde.
*
Es wäre einseitig und verfehlt, wollte man fordern, es solle die
Zuwanderung vom Lande in die Stadt völlig unterbleiben. In der allgemeinen
Entwicklung des sozialen Lebens sind die Städte zu Notwendigkeiten geworden, die
ihre besonderen und unentbehrlichen Aufgaben für die Allgemeinheit zu lösen
haben. Es kann nicht anders sein, als daß sich das Bevölkerungsbecken der
Großstadt immer wieder aus Zuflüssen vom Lande her nachfüllt, und das Bauerntum
ist als Quickborn des Lebens auch kraftvoll genug, um solche Rinnsale allezeit
ohne Schaden zu entsenden.
Doch dieser Zug zur Stadt darf nicht zur Landflucht werden. Wenn der Bauer den
Spaten in den Winkel stellt und es als Tor-
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4) Vgl. HERMANN HUCHZERMEYER, "Beiträge zur Geschichte der Familie
Huchzermeyer", Degener & Co., Leipzig 1926, S. 39.
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heit oder gar Schande ansieht, den Acker zu bestellen und das
Vieh zu züchten, dann hat der landfremde Geist des Stadtgetriebes über die
Erdverbundenheit des bäuerlichen Sinnes den Sieg errungen. Dann hat der Mensch
der Scholle sich selbst - und das Leben aufgegeben! Peter ROSEGGER sagt über
diese Dinge: "Großstadtleben - und ich spreche hier ein schweres Wort mit
Bedacht aus - ist Entartung und Untergang, nur verlangsamt durch beständigen
Zufluß ländlicher Kräfte. Ich kenne Stadtleute, die sonst sehr klug sind, denen
es aber vorab, ohne darüber nachzudenken, als sicher gilt, daß das Stadtleben
die normale Existenz sei. Alles andere, was draußen kraucht und fliegt, sei so
ziemlich untergeordnet ... Sie sind unzufrieden, kritisch, skeptisch,
pessimistisch, gallisch ... Weil sie nicht körperlich arbeiten, weil sie's nicht
mit Wetter, Sonnenbrand und Sturm zu tun haben, weil sie dem großen Gott nicht
in sein erhabenes Antlitz schauen. Der Stadtmensch ist genußhungrig, ohne
herzhaft genießen zu können, ist ruhelos aus einer Jagd, ohne eigentlich zu
wissen, was er erjagen will, ist unzufrieden mit sich selbst und weiß sich doch
nicht besser zu machen. Es fehlt ihm der Glaube an Gott, an die Menschen, an
sich selbst. Aber er wohnt vornehm, kleidet sich elegant, hat Pferde, Automobil,
Lakaien, und wer weiß wie viele Freunde und Freundinnen. Er trinkt Sekt, raucht
seine Zigarren. Was die Kunst und Literatur neues hat, das kennt er, kritisiert
er. Alles ist da, nur die warme, lichterlohe Freude fehlt. Die fehlt. Und auf
die käme es an, einzig und allein. DIE Kultur ist die richtige, die uns
Daseinslust und Freude bringt. Aber die Freude, die reine, die lichte, ist wie
eine Blume, die am liebsten unter freiem Gotteshimmel gedeiht." 5)
Mag Rosegger bei diesem Bilde, das er von der städtischen Zivilisation malt,
gelegentlich auch den Pinsel zu stark in dunkle Farben getaucht haben, so sind
die Grundzüge seiner Darstellung doch unfehlbar richtig, und der Ruf "Heim zur
Scholle!" muß weithin durchs Land ertönen.
Der Sippenforscher, der sich über die Stammtafeln bäuerlicher Geschlechter beugt
und nachdenklich ihre Familiengeschichte durchblättert, kommt zu klarer
Erkenntnis, wie tiefernst diese Mahnung ist. Er kann an Hand der genealogischen
Aufstellungen deutlich verfolgen, wie sich in jüngerer Zeit die Beziehungen des
ländlichen Menschen zu seiner Scholle gelockert haben; manch ein alternder
Besitzer ist gezwungen, sein Grundstück an einen Fremden zu verkaufen, Bitternis
im Herzen, mit zusammengebissenen Zähnen, und muß es dennoch tun, weil keins
seiner Kinder bereit ist, die Landwirtschaft zu übernehmen; in der jetzt
lebenden Generation ist auch auf den Bauernhöfen der Nachwuchs oft spärlich
geworden, neben einer Zahl von ein oder zwei Kindern gibt es zahlreiche
kinderlose Ehen auch in den Dörfern. Manch altes, hofgesessenes Geschlecht
rüstet sich zu schnellem Sterben. Bäuerliche Sippenkunde deckt alle diese
eilends daherschreitenden Gefahren mit unbarmherziger, ernste Beachtung
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5) Vgl. PETER ROSEGGER, "Heim zur Scholle!" Graz, Leopold Stocker,
1922, S. 18ff.
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fordernder Klarheit auf! Aber sie tut noch
mehr: Indem sie die Kirchenbücher nach den Vorfahren und ihren Familien
durchsucht, die alten Heiratsverträge und Erbverschreibungen,
Grundstücksabschätzungen und Testamente aus dem Staub der Vergessenheit
hervorholt und mit liebendem Sinn, hingegeben an die Freude über der Vorväter
kraftvolle Art, zu neuem Leben erweckt, wird sie zum Herold des echten, alten
Bauerntums und trägt Sinn und Sein der Ahnen, Achtung und Nachfolge heischend,
hinein in die ungesund bröckelnde Gegenwart.
Aus dem "Archiv für Sippenforschung".
Verlag C. A. Starke, Görlitz O.-S.
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