Lauenburgische Heimat
[Alte Folge]

Zeitschrift des Heimatbundes Herzogtum Lauenburg e. V.
1932


Erinnerungen eines hochbetagten Pastors em. an seine
Ratzeburger Schülerzeit von Herbst 1861 bis Herbst 1864.

Als Schüler der oberen Prima der Realschule des Hamburger Johanneums hatte ich wegen meiner guten Handschrift und meiner englischen und französischen Kenntnisse schon eine Stelle am Kontor angeboten erhalten, aber ich schreckte vor dem Kaufmannsberuf zurück und wünschte mir eine klassische Bildung. Mein Vater verlegte im Herbst 1861 seinen Wohnsitz von Hamburg nach Ratzeburg-Domhof (Mecklbg.-Strelitz), und ich trat, da mir das Griechische völlig fehlte, in die Quarta der Lauenburgischen Gelehrtenschule ein. Ich wurde von einzelnen Fächern wie z. B. Französisch befreit und hatte! währenddessen altklassischen Unterricht bei dem ebenso trefflichen wie anregenden Dr. Aldenhoven, einem früheren Lehrer des Raheburger Gymnasiums. Mein Lehrer in der Quarta war der Kollaborator Martin Burmeister, später Pastor in Sahms.

Ostern 1862 wurde ich von Propst Rußwurm konfirmiert und in die Tertia versetzt. Die Privatstunden in den klassischen Sprachen dauerten an, aber die Dispensation von bestimmten Schulstunden fiel fort. Mein Klassenlehrer wurde der Konrektor Burmeister. "Snuten" genannt. Außerdem unterrichteten in der Tertia der Kollaborator Frahm, der durch seinen tiefgründigen Unterricht auf uns Schüler besonders einzuwirken wußte, und der Mathematiker Rektor Bobertag. wegen seiner etwas herabhängenden Backen "Hamster" genannt. Ostern 1863 trat ich in die Sekunda ein, deren Ordinarius der Subrektor Hornbostel war, "Snider" genannt. Der Übergang nach der Sekunda erschien mir nicht leicht. Kollaborator Frahm verlangte viel im Deutschen. Das Aufsatzthema: "Schillers kulturhistorische Ansichten nach dem "Eleusischen Fest" und dem "Spaziergang" ist mir haften geblieben. Das Zusammenleben der Sekundaner und Primaner war eng.

In Sekunda wurden wir mit "Sie" angeredet. Subrektor Hornbostel sagte oft "Er". Dieser sonst treffliche Lehrer konnte sich manchmal in allerlei scharfen Bemerkungen ergehen, die er Shakespeare entnommen zu haben schien. Ich höre noch, wie sie pfeilartig manchen Schüler trafen: "Sie Blechschädel", "Sie antidiluvianisches Faultier, seien Sie doch nicht so infam kommun faul!" Oder: "Falsch! Noch mal!" Besonders wetterte er, wenn er am Abend vorher im L'hombrespiel verloren hatte. Bobertag liebte zu sagen: "Haltung, Haltung, junger Freund! Sie mögen werden, was Sie wollen, Schuster oder Schneider! Aber aufpassen müssen Sie!" Einer sollte die Tafel abwischen
und konnte keinen Schwamm finden: "Lecken Sie 's ab, dann haben Sie gleich ein Frühstück!"

Wir hatten ein wunderbar schönes Schülerleben. Die meisten stammten aus Ratzeburg selber, Auswärtige waren in Pensionen untergebracht, darunter manche vom mecklenburgischen Adel, z. B. v. Buch, v. Bassewitz, v. Plessen, mehrere aus Hamburg, wie Stierling, Karl de Boor. Weiter erinnere ich mich an v. Hantelmann ("Gummel" genannt), Mirow ("Gigas"), du Plat ("Käs"), Adolf von Hein ("Muffel").

Noch vor meinem Eintritt ins Gymnasium, etwa im Sommer 1860, waren Liebschaften zwischen den Sekundanern und Primanern einerseits und den jungen Mädchen aus dem Pensionat von Frl. Kuß aufgedeckt worden. Adolf v. Hein, dem die Mädchen ganz gleichgültig waren, war auch in die Affäre, verwickelt, da er einen Zettel geschrieben und auffindbar hingelegt hatte:

"Ich bin auf ewig Dein
Dich liebender Adolf Hein."

Wer den Zettel bekam, war ihm ganz gleichgültig.

Im Sommer konnten wir für einen Lauenburger Schilling, von denen 48 auf einen Taler gingen, mehrere Stunden im Boot auf dem See liegen. Dann wurden die frühen Morgenstunden für die Schularbeiten benutzt. Ein Nachtwächter war aufgefordert, einen bestimmten von uns zu wecken. Dieser weckte die andern, indem er an einem Seil zog, das aus dem Fenster hing und an Arm oder Bein des Kameraden befestigt war. Der Weckende zog so lange, bis der Geweckte am Fenster erschien. Bei mir geschah die Aufforderung durch

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eine lange Bohnenstange, mit der ans Fenster geklopft wurde. Unser Sammelpunkt am Abend war bei der Fähre. Hornbostels Garten reichte bis an den See. Eines Vormittags sagte er uns in der Klasse mit Mißfallen, aber sehr eindrücklich: "Ich habe gehört, daß Sie auf dem Boot den Namen Gottes unnützlich führten."

Besonders eingeprägt hat sich mir die Feier der Leipziger Schlacht am 18. Oktober 1863. Unser verehrter Direktor Zander, den Lützower Säbel umgeschnallt, zog der Schülerschaft - die Sekundaner und Primaner trugen Rapiere - voran auf mecklenburg-strelitzesches Gebiet, hier hielt er eine kurze Ansprache, vaterländische Lieder wurden gesungen und Teertonnen angezündet. Direktor Zander, von uns "Strunk" genannt, war im Freiheitskrieg Lützower Jäger gewesen. Im Geschichtsunterricht, den er in der Sekunda gab, nannte er nie den Namen "Napoleon", sondern sprach immer nur mit verhaltenem Ingrimm vom "Bonapart".

Subrektor Hornbostel bezeichnete den Freiherrn v. Stein mit Emphase als den "größten Mann des Jahrhunderts". Zander, der kein großer Redner war, aber ein echter, treuer deutscher Mann, wirkte schon durch seine Ehrfurcht gebietende Persönlichkeit. Die Kenntnisse seiner Primaner im Lateinischen waren fabelhaft; sie hatten große Abschnitte der verschiedensten Schriftsteller gelesen und lieferten als Abschluß häufig einen lateinischen Klausuraufsatz von 9-11 Folioseiten. Wenn Direktor Zander seine Abiturienten entlassen hatte mit dem Taschentuche in der Hand, um sich die Tränen abzuwischen, war er vierzehn Tage vor Trauer ungenießbar. Zander wohnte in der Töpferstraße. Dort konnte man den sonst in seiner Studierstube sehr seßhaften alten Herrn auch wohl einmal beim Torfabladen oder Teeren der Planke antreffen. Er rauchte stark aus einer Pfeife, die sehr viel Tabak in sich bergen mußte.

Einst hatte ein Primaner sich im Trinken übernommen und kam vor die Konferenz. Zander sollte dem Übeltäter seine Sünden vorhalten, stieß aber nur die Worte hervor: "Wasser soll er saufen!"

Früher wohnte Zander in dem Gebäude, das durch einen Kreuzgang mit dem Dom verbunden ist. Über den Zimmertüren hatte er hier in großen Lettern griechische Inschriften anbringen lassen, wie z. B.

Der alte Pedell Benthin bekam immer seinen abgelegten blauen Rock mit den langen Schößen und fühlte sich halb als Direktor. "Ik und de Herr Direktor" oder: "Ik und de Konferenz hebben besloten", pflegte er zu sagen.

Die Lauenburgische Gelehrtenschule erschien uns wie eine Art Republik. Ich verdanke ihr sehr viel. Die Domschule in Schleswig, an die ich Herbst 1864 als Primaner übersiedelte, war ihr an Lehrkräften und Leistungen damals m. E. kaum überlegen.

 

 


 

 

 

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