Je weiter und je länger man sich in die
Geschichte der Heimat vertieft, desto mehr fällt die
Regelmäßigkeit, die Gesetzmäßigkeit in der Wandlung der
Berufsarten in die Augen. Eine dieser regelmäßigen Erscheinungen
ist folgende: Alle alten Beschäftigungen waren zunächst Arbeiten
in jedem Hause, auf jedem Gehöfte, dann wurde daraus ein
Handwerk, ein gesonderter Beruf, und in den letzten hundert
Jahren sind daraus Fabriken, große Industriezweige geworden. Die
Weberei zeigt uns diese Wandlung, diesen Entwickelungsgang mit
besonderer Deutlichkeit.
Die Weberei ist heute fast vollständig zur Fabrikarbeit, zur
Textilindustrie geworden. Welche Arbeit dadurch dem zünftigen
Weberhandwerk und den Hausfrauen genommen und abgenommen worden
ist, das können wir einigermaßen ahnen, wenn wir uns den langen
Weg vorstelleir, der vom Leinsamen zur Leinwand führt. Leinsamen
kann man noch heute in jeder Vogelhandlung sehen. Die schönen,
braunen, glatten Körnchen wurden im Frühling ausgesäet. Das war
Arbeit der Männer. Sobald die kleinen Hälmchen enrporschossen,
mußte das Unkraut ausgezogen werden. Frauen und Mädchen krochen
auf den Knien über das Feld und jäteten alles aus, was nicht
Flachs war. Nun wuchsen die Halme weiter, wurden einen halben,
in guten Jahren bis zu einem Meter hoch. Oben verzweigten sie
sich leicht und bekamen schöne, blaue Blüten. Ein Flachsfeld bot
einen hübschen Anblick. In einem alten Liede heißt es:
"Nun kommt in die Felder und
blühenden Auen,
Das liebliche Pflänzchen der Mädchen zu schauen." |
Aus den Blüten wurden erbsengroße, kugelrunde
Knoten, die wieder mit dem schönen Leinsamen gefüllt waren. Im
Spätsommer wurde der Flachs braun und reif, und die Flachsernte
machte gewöhnlich den Schluß der Erntearbeit. Die Flachsstengel
wurden nicht mit der Sense gemäht, sondern mit der Hand aus der
Erde gezogen, denn sie waren wertvoll bis in die Wurzel. Dann
wurden sie in Bündel gebunden, zum Trocknen in Hocken
aufgestellt. Der trockene Flachs wurde ins Haus gefahren und
gedroschen, um den wertvollen Leinsamen zu gewinnen. Die Stengel
wurden wieder hinausgebracht und auf einem Stoppelfelde oder auf
einer Weide in langen Reihen ausgespreitet. So blieben sie ein
paar Wochen liegen, dem Winde, dem Wetter und dem Regen
ausgesetzt. Dadurch wurden sie morsch und brüchig, nur der Bast,
die eigentliche Gespinstfaser, widerstand jeder Witterung und
blieb zähe. Dann wurde der Flachs wieder nach Hause geholt, und
wenn dann Brot gebacken wurde und das Brot aus dem Ofen gezogen
war, dann wurden die Flachsstengel in den noch warmen Backofen
gepackt und auf diese Weise geröstet. Die gerösteten und deshalb
sehr brüchigen Stengel wurden nun gebrochen. Das geschah mit der
BRAKE, einem Werkzeug, das für diesen Zweck hergestellt war. Die
gebrochenen
Flachsbrake. Schwingbock. Hechelbock.
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Stengelteile fielen heraus und die Fasern
blieben zurück. Das Flachsbrechen mußte in einigen Stunden getan werden, solange
der Backofen und der Flachs noch warm waren. Deshalb wurde alles zu dieser
Arbeit herangezogen, was eine Hand rühren konnte, und Nachbarn halfen sich
gegenseitig. In den Fasern blieben aber noch kleine Stücke der gebrochenen
Stengel hängen. Sie wurden herausgeschlagen mit der SCHWINGE. Das war ein
breites Schwert aus Holz. Die Flachsfasern wurden dabei mit der linken Hand über
ein aufrecht stehendes Brett den SCHWINGBOCK, gehalten, und mit der Schwinge in
der rechten schlug man daran herunter. Endlich wurden die Fasern noch durch die
HECHEL gezogen. Die Hechel war ein grober Kamm, sie nahm alle kurzen und krausen
Fasern aus dem Flachs heraus. Die übrig bleibenden glatten Fasern wurden
zusammengedreht, und ein solcher FLACHSKNOTEN sah so schön aus, wie der Zopf
eines flachsblonden Mädchens. Nicht so schön sahen die Frauen beim Brechen,
Schwingen und Hecheln aus, Staub und Fasern flogen umher, und schon nach ein
paar Stunden waren sie von einer grauen Schicht der Flachsabfälle bedeckt. Nach
allen diesen Vorbereitungen begann das SPINNEN, und es zog sich durch den ganzen
Winter hin. Jede Frau und jedes Mädchen hatten ein Spinnrad im Gange, und jede
freie Stunde, besonders die langen Winterabende, wurden mit Spinnen ausgefüllt.
Sobald eine hinreichende Menge Garn gesponnen war, ging es ans WEBEN.
Wer einen Webstuhl gesehen hat mit seiner verwickelten Einrichtung, in der jeder
Faden seinen wohlberechneten Weg macht; wer einen Weber arbeiten sah mit Händen
und Füßen, wer der sah, wie "die Schifflein herüber-, hinüberschießen, die Fäden
ungesehen fließen und ein Schlag tausend Verbindungen schlägt"; wer die glatte,
schöne Leinewand betrachtete, zuweilen "geköpert", mit "Augen" oder
"Damastmuster" durchwebt, der wird einige Bewunderung für das kunstvolle
Weberhandwerk aufbringen, er wird aber noch mehr darüber erstaunen, daß in
vergangener Zeit Frauen und Mädchen neben ihrer sonstigen, weit verzweigten
Hausarbeit auch am Webstuhl saßen. Ich habe in meinem Leben noch zweimal
Gelegenheit gehabt, eine Frau am Webstuhl zu sehen, einmal in einem abgelegenen
Dorfe der Wesergebirge - es war eine alte Frau, die sich noch durch ihre Weberei
nützlich machte -, ein andermal in einem Dorfe der Lüneburger Heide während der
Kriegszeit - es war ein junges Mädchen, das den Webstuhl wieder vom Boden geholt
und nach Anleitung der Großmutter in Betrieb genommen hatte. Alte Gewohnheit und
die Not der Zeit hielt oder brachte diese Frauen noch zum Weben; in der Mehrzahl
haben die Hausfrauen gern die Weberei dem zünftigen Webermeister überlassen,
sobald dieses Handwerk sich entfaltete. Und das geschah schon im Mittelalter.
Mit dem Aufkommen der alten Handwerke blühte auch die Weberei auf, zuerst in den
Städten, dann bis auf das letzte Dorf hinaus. Es ist selbstverständlich, daß der
Webermeister geschickter arbeitete, als der Durchschnitt der Frauen. Es war sein
Beruf, während es bei den Frauen nur ein Nebenberuf war; er konnte sich besseres
Werkzeug verschaffen; er lernte in seinen Wanderjahren die Hauptgebiete der
Weberei, Schlesien, Bielefeld, Augsburg, kennen; er eignete sich dort die
neueste Kunst und die neueste Technik seines Handwerks an. Aus allen diesen
Gründen vollzog sich der Übergang von der Hausweberei zur handwerksmäßigen ganz
natürlich und reibungslos. Die Hausfrauen hatten auch ohne die Weberei Arbeit
genug, sie konnten aus den Erträgen ihrer Wirtschaft den Weber bezahlen, in
Naturalien oder in Geld; Frauen und Webermeister waren zufrieden mit dieser
Teilung der Arbeit, mit diesem Fortschritt der Technik. -
In dieser Zeit der handwerksmäßigen Weberei entstanden in verschiedenen Städten
und Gegenden Niederlassungen von Webern, die nicht für den Bedarf des Ortes und
dessen Umgebung arbeiteten, sondern deren Gewebe hinausgingen in die weite Welt.
Zu diesen Geweben mußte der größte Teil des Materials - Flachs, Wolle, Baumwolle
- von weit her herbeigeschafft werden. Beides, der Einkauf des Materials und der
Verkauf der Gewebe, geschah nicht durch die Weber, sondern durch Kaufleute. Das
Weberhandwerk besorgte nur die technische Herstellung der Gewebe. Zum
Verständnis dieser mittelalterlichen Großbetriebe sei hier einiges mitgeteilt
über die Weberei in Augsburg.
Allgemein bekannt ist ja der Name FUGGER. Die Familie stammte aus einem Dorfe in
der Nähe von Augsburg. Weil die Augsburger Weber
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die ländliche Konkurrenz vom Markte
fernhielten, zogen zwei Gebrüder Fugger als Weberknechte (Gesellen, Knappen) in
die Stadt und hielten die Verbindung mit ihrem Heimatdorfe aufrecht. Der eine
von ihnen kaufte sich in Augsburg an und erwarb dadurch die Bürger- und
Meisterrechte, der andere erreichte dasselbe Ziel durch Verheiratung mit einer
Weberswitwe. Jetzt trieben sie nicht nur die Weberei in größerem Stil, sondern
sie legten sich auch auf den Handel mit BAUMWOLLE und mit BARCHENT. Die
Baumwolle kam damals (etwa um 1400) aus Kleinasien, ging zu Schiff
nach Venedig und wurde von dort durch Saumtiere über die Alpen (Brenner) nach
Augsburg getragen. Der daraus hergestellte Barchent war damals ein viel
begehrtes Gewebe, und die Gebrüder Fugger wurden wohlhabend durch diesen Handel.
In den folgenden Generationen dehnten sie ihr Geschäft auch auf andere Zweige
aus. Der lebhafte Verkehr auf der damaligen Welthandelsstraße Augsburg-Venedig
gab ihnen Gelegenheit zu Bankgeschäften. Sie spannen diese Fäden des Handels
weiter nach Norddeutschland, den Niederlanden, England (durch die Hansa),
Frankreich, Spanien und Rom. Dabei blieben die einzelnen Linien der Familie
Fugger stets in enger Verbindung miteinander und auch mit andern Handelshäusern
(Welser). Durch solche Verbindung - Kartell, Syndikat würden wir heute sagen -
machten sie damals die größten Finanzgeschäfte. Sie bezahlten dem Kaiser
Maximilian, dem letzten deutschen Ritter, die Landsknechte für seine Kriege;
dafür erhielten sie Kupfer- und Silberbergwerke in Tirol und Ungarn. Sie zahlten
dem Papste die Verkaufssumme für den Erzbischofssitz in Mainz; dafür schickte
der neue Erzbischof den Ablaßkrämer Johann Tetzel durch die deutschen Lande, und
das Geld floß aus dem Kastens Tetzels in die Kassen der Fugger. 1519
bot der König von Frankreich den deutschen Kurfürsten Geld, damit sie ihn, den
König von Frankreich, zum deutschen Kaiser wählen möchten; die Fugger boten
mehr, und so wurde Karl V. deutscher Kaiser und Herr über ein
Reich, in dem die Sonne nicht unterging. Dafür wurden den Fuggern ein paar
Reichsfürstentümer verpfändet, sie erhielten Bergwerke in Spanien und
Handelsverbindungen mit der neuen Welt. Während des Reichstages von Augsburg
wohnte Karl V. im Fuggerhause, und es wurde ihm dort besonders
warm und behaglich, als der Handelsherr Fugger mit den Schuldscheinen des
Kaisers das Kaminfeuer anzündete. "Ich habe einen Weber in Augsburg, der kann
das alles bezahlen", soll Karl V. einmal gesagt haben, als ihm
große Kostbarkeiten gezeigt wurden.
Die Fugger blieben trotz Großhandel, Bank, Politik und Reichsfürstentum die
Weber von Augsburg. Als Barchent nicht mehr hinreichend gefragt wurde, gingen
sie über zur Kattunweberei und -druckerei, und die Augsburger Kattunmuster
wurden in der ganzen Welt berühmt. Eine Hamburger Musterzeichnerin soll ein
Jahresgehalt von fünftausend Gulden bezogen haben. Bei den guten
Absatzmöglichkeiten muß auch die Bezahlung der Handarbeit angemessen gewesen
sein, denn man findet keine Berichte über Weberelend in Augsburg. -
Auch im 19. Jahrhundert, als die mechanische Spinnerei und Weberei
sich ausbreitete, blieb Augsburg von Krisen und Unruhen verschont. Die
Textilfabrikation wurde in einem Maße und in einer Weise ausgebaut, daß die
zünftigen Handweber als Fabrikarbeiter und -angestellte weiter Beschäftigung
fanden. Es entstand daneben eine Eisenindustrie, die vielen Tausenden neue
Beschäftigung bot. Geld und Intelligenz bahnten den Übergang vom Handwerk zur
Industrie.
Diese Entwickelungslinie - Hausarbeit, Handwerk, Industrie - kann in der Weberei
als abgeschlossen gelten. Bis ins letzte Dorf hinein sind alle, Männer wie
Frauen, mit den Stoffen der Fabriken bekleidet. Es gibt keine Webermeister mehr
und die Hausweberei kennt man nicht einmal mehr. Aber es regt sich etwas Neues,
das wir beachten müssen; das ist die KUNSTGEWERBLICHE HANDWEBEREI.
In verschiedenen Gegenden Deutschlands ist mit Erfolg versucht worden, Webereien
nach eigener Erfindung, eigenem Geschmack, in neuen Mustern, aus besonders
gewählten Rohstoffen, in besonderer, zweckvoller Arbeit herzustellen. Man hat
hierfür geeignete Webeapparate angefertigt und Wolle, Flachs, Hanf durch eigene
Spinnerei für solche Webereien vorbereitet. In fortschrittlich geleiteten
Textilgeschäften findet man diese Erzeugnisse mit ausgestellt, und
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einzelne Personen und Gruppen solcher Handweber und -Weberinnen
haben sich Ruf und Namen erworben. Was ist von dieser Handweberei und ihrer
Zukunft zu halten?
Alfred Lichtwarck, lange Jahre Direktor der Kunsthalle in Hamburg, und Justus
Brinkmann, Direktor des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe, haben Zeit
ihres Lebens zwei Forderungen für das Handwerk vertreten: erstens, der
Handwerker muß aus eigener Erfindung heraus neue Formen für seine Erzeugnisse
schaffen, er muß ein Künstler in seinem Berufe sein; zweitens, er muß den
Kleinmotor in seinen Dienst stellen. Die neue Handweberei arbeitet bewußt an der
Herstellung neuer, schöner, künstlerischer Gewebe, Decken, Teppiche; sie bewegt
sich in der Richtung, die in den 80er Jahren des vorigen
Jahrhunderts aufgezeigt wurde. Es sind Webstühle und Webegeräte verschiedener
Art für solche Arbeit konstruiert und gebaut worden; ob auch der Motor zum
Antrieb dabei gebraucht wird, ist mir nicht bekannt geworden. In andern Gewerben
hat der Kleinmotor seitdem weitgehende Verwendung gefunden. Und die Erzeugnisse
dieser Handweberei finden den Beifall aller derer, die ihnen Beachtung schenken.
Und diese Handweberei in Haus und Beruf hat sich angebahnt zu einer Zeit, in der
auch die fabrikmäßige Erzeugung von Geweben wieder einen großen Fortschritt
gemacht hat, nämlich gleichzeitig mit der Erfindung und Herstellung der
KUNSTSEIDE. Aus Holz und Baumwollabfällen gewinnt man die Fasern und Gespinste,
in großen Fabriken werden daraus die mannigfaltigsten Gewebe hergestellt. Diese
Erzeugnisse gehen durch die ganze Welt, und die Fabriken sind zu großen
Konzernen über alle Landesgrenzen verbunden. Sie schaffen Massenwaren in schonen
Farben und guter Qualität; daneben entfaltet sich die Handweberei, sie
befriedigt den besondern Geschmack und die besonderen Wünsche derer, die auf
Sonderleistungen Wert legen.
Schließen wir mit einem Bilde. Die Hausweberei gleicht den Wurzeln, die
handwerksmäßige Weberei dem Stamme, die Textilindustrie der Krone eines
mächtigen Baumes. Es ist die Krone, die uns mit allem versorgt, uns alles in
Überfluß spendet. Jedoch, aus der Wurzel schießen noch neue Reiser empor, und es
lohnt sich vielleicht, diese Schößlinge an eine geeignete Stelle zu versetzen,
sie zu hegen, zu pflegen und zu einem Bäumchen aufzuziehen. Wer es vermag, durch
Nachdenken, Geduld und Ausdauer, Geschick und Geschmack neue Gebilde zu
schaffen, der dient damit andern und zugleich sich selber. Aber Arbeit, Mühe und
Intelligenz gehören zu solchem Unternehmen. Durch solchen Aufwand ist der Baum
der Industrie so groß geworden; können aus Reisern und Bäumchen nicht noch mehr
so großer Bäume gezogen werden? Der Baum der Textilindustrie ist in seiner Krone
Jahrzehnte alt, in seinem Stamm Jahrhunderte, in seinen Wurzeln Jahrtausende;
ein neuer Industriezweig macht diesen langen Entwickelungsgang vielleicht in
einigen Jahrzehnten durch. Hier ist ein ausgedehntes und vielversprechendes
Arbeitsgebiet. Wer legt die Hand ans Werk?
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