3.
Jedem Augenzeugen wird der Dezembermorgen
1929, an dem der erste Transport rußlanddeutscher
Flüchtlinge in Mölln eintraf, unauslöschlich in Erinnerung
bleiben. Der Bahnhofplatz war abgesperrt; Vertreter der
Regierung und der Behörde, sowie Mitglieder des Frauenvereins
harrten des Sonderzugs, Last- und Personenautos standen in
Bereitschaft, Feuerwehrleute und Sanitäter. Und der Zug lief
ein, und eine Kette des Elends wurde in die Autos verteilt, über
300. Und außerhalb der Sperre die Zuschauer, die
Reichsdeutschen, die "Deutschländer". Teils in Ergriffenheit
stumm, teils erbittert über die Moskauer Brutalität, teils auch
verächtliche Possen reißend anläßlich des sehr eigenen
Schauspiels, teils auch fluchend über diese "Faulpelze" und
"Russen". "So eine faule Gesellschaft", wetterte ein
wohlgenährter arbeitsloser Möllner, "verhungerte Gesichter?
nichts Neues; haben wir auch; denken wohl, wir hätten Geld für
Ausländer über; kehrt marsch! wollen nur nicht arbeiten, Pack
das!"
Die Flüchtlinge fanden Unterkunft in der früheren
UnteroffizierVorschule des IX. Armeekorps, das
als Lager eingerichtet worden war. In dem Willkommensgruß durch
Regierungsrat von Heimburg hieß es: "Namens der deutschen
Reichsregierung und der preußischen Staatsbehörden heiße ich Sie
herzlich willkommen. Die deutsche Reichsregierung hat Ihnen hier
eine Zuflucht geboten, bis Sie in Ihre neue Heimat auswandern."
Also in Rußland und Amerika Heimat, das Vorväterland ist kein
Vaterland, ist nur Gastland. Da prägte Bürgermeister DR. Wolfs
den ergänzenden Satz: "Wir nehmen von ganzem Herzen Anteil an
eurem Geschick, weil ihr mit uns eines Stammes und Blutes seid."
Und Hauptpastor Bruns ging auf die religiösen
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Beweggründe ein: "Wenn wir auch in den Formen
und Äußerungen gottesdienstlichen Lebens verschieden sind, eint uns doch der
gemeinsame Glaube an den Heiland und den Gott Jesu Christi." Ein mennonitischer
Prediger dankte dafür, daß man sie als Volks- und Glaubensgenossen begrüße.
Wie dankerfüllt waren die Flüchtlinge. Sie hatten die Not am eigenen Leibe
verspürt. Es trafen weitere Transporte ein, weitere Schrecknisse wurden
Gesprächsgut. Die ersten Briefe aus Rußland wurden verausgabt, weitere folgten,
sie gingen von Hand zu Hand: Notschreie! Und die Flüchtlinge wußten, daß das,
was die Zensur durchließ, nur ein schwacher Abglanz der grausamen Wahrheit war.
Die Flüchtlinge waren des Dankes voll. Mancher Möllner wird das 74strophige
Gedicht des Flüchtlings Abram Jacob Löwen in Händen haben, das im Frühling
1930 im Lager verfaßt wurde und verschiedentlich öffentlich aushing,
das Gedicht "Unser Weg". "In Deutschland gab's Erbarmen", heißt es in diesem
Gedicht, "Denn deutsche Treu' ist groß. / Mit ausgestreckten Armen / Nahm man
uns in den Schoß. - Wir durften Einzug halten / Ins deutsche Vaterland. / Wir
fühlten Gottes Walten / Und seine starke Hand. - Heil sei dem deutschen Volke, /
Hoch lebe Hindenburg! / Durch schwarze Wetterwolke / Brach Freud' und Wonne
durch."
Kanada öffnete sein Tor wieder, aber die ärztliche Zensur war streng. Weniger
streng war die Kontrolle der südamerikanischen Republiken. Schon im Frühling
zogen die ersten Gruppen über das Meer. Aber das Lager wurde nicht leer. Ständig
kam neuer Nachschub. Die Lager zu Hammerstein und Prenzlau wurden aufgelöst, das
Möllner Lager blieb bestehen, war es doch nicht nur Durchgangslager wie jene,
sondern auch Sammellager.
Die Flüchtlinge waren des Dankes voll. Aus diesem Gefühl heraus stifteten sie
die auf dem Friedhof und in der Kirche befindlichen beiden Mäler. Am 9.
November 1930 vormittags wurde nach einer besonders darauf
eingestellten kirchlichen Feier die Danktafel überreicht. Der Vorsitzende des
Flüchtlingsausschusses (Löwen) hielt eine Ansprache, und darauf sang der
Flüchtlingschor: "Wir sind ein Volk, vom Strom der Zeit gespült ans
Erdeneiland." Am Nachmittag gleichen Tages wurde der Gedenkstein enthüllt. - Das
war am 9. November, einem denkwürdigen Tag der deutschen
Geschichte. Es jährte sich der Tag der Waffenstreckung; ahnte das Volk die
Schmach, die unweigerlich darauf folgte? Es jährte sich der Marsch auf die
Feldherrnhalle; ahnte das Volk die Schande, der 16 Getreue zum
Opfer fielen? Und nun wieder ein 9. November: Wie wenige empfanden
den Mahnruf der Flüchtlinge, das ungesprochene und doch so offenbare Wort: Warum
bleiben wir nicht im Reich der Väter? Nimmt die Erde der Väter nur Söhne der
Ferne auf, wenn sie tot sind? Kann Deutschland nur Leichen gebrauchen?
Das Wort, das Professor Auhagen schon im Frühling 1930 in
"Deutsche Post aus dem Osten" gesprochen hatte, verhallte fruchtlos: "Die
deutsche Regierung möge der Räteregierung sagen: 'Wir reden nicht in eure
Innenpolitik hinein, aber gebt uns diejenigen Deutschen
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heraus, die euch im Wege sind und zugrunde
gehen!' Deutschland kann diese Unglücklichen unbedenklich aufnehmen. Sie stellen
eine Auslese des rußlanddeutschen Bauerntums dar. Wir brauchen diese für die
Verjüngung unseres Volkes so wertvollen Menschen nicht über See ziehen zu
lassen, sondern können sie ohne große finanzielle Opfer im Inland, vor allem in
unseren durch die Landflucht bedrohten Ostmarken, unterbringen, wenn wir nur die
vor dem Kriege im allgemeinen gut bewährten Methoden der allgemeinen Fürsorge
wieder anwenden." Die Behauptung Professor Auhagens, daß gerade die vom
bolschewistischen System verfolgten rußlanddeutschen Bauern eine "Auslese"
darstelle und daß wir diese "gebrauchen könnten", mag durch zwei Tatsachen
belegt werden. 1) Von den rund 6000 rußlanddeutschen
Flüchtlingen wurden nur 4 % (lutherischen Bekenntnisses) im Reich
angesiedelt, und zwar im benachbarten Mecklenburg, davon die größere Hälfte in
Schossin bei Wittenburg. Der größere Teil des dortigen Gutes wurde als
Siedlungsgelände aufgeteilt und zur Hälfte an ehemalige Gutsarbeiter und zur
andern Hälfte an rußlanddeutsche Flüchtlinge vergeben, das war 1931,
zu einer Zeit, als die innerpolitische Schwüle bedenklich anstieg. Die
ehemaligen Gutsarbeiter hielten die Sowjetunion für ein Paradies, mindestens die
Flüchtlinge für Nichtsnutze. Aber durch engeres Erlebnis wandte sich das Blatt.
Es ist bezeichnend, daß bei der Volksabstimmung am 12. November
1933 Schossin geschlossen sich für Hitler entschied, einstimmig; im
benachbarten Kirchdorf Parum fiel nur etwa die Hälfte der Stimmen auf Hitler.
2) Der brasilianische Botschafter in Paris, DR. Souza Dantas,
versicherte Ende 1930 Pariser Journalisten, daß man gerade die
deutschstämmigen Siedler aus Rußland mit besonderer Freude aufnähme, da gerade
die Deutschen vorzügliche Kulturarbeit zu leisten imstande seien, und gerade
Brasilien habe das erfahren.
Das Flüchtlingslager lichtete sich. Am 14. März 1931
wurde es aufgelöst. Im Möllner Lager befanden sich auf kürzere oder längere Zeit
5470 Personen, davon waren inzwischen 3267
Mennoniten, 990 Lutheraner, 431 Katholiken und
28 Baptisten ausgewandert; nach einer späteren Angabe befanden sich
5636 Rußlanddeutsche im Möllner Lager. Für die restverbliebenen
Flüchtlinge wurden zwei Nebenbauten der ehemaligen Unteroffiziervorschule als
"Mennonitenheim" eingerichtet. Die Anzahl verringerte sich ständig, obschon sich
ab und zu vereinzelte weitere Flüchtlinge - in der Regel nach langwierigen
Abenteuern - einfanden. Im Herbst 1933 wurde das "Mennonitenheim"
nach Wandsbek verlegt. 1934 nach Altona, 1935 löste
es sich auf.
Was bewegte den Weimarer Staat, daß er nicht nur den Antrag auf Nachlieferung
weiterer Rußlanddeutscher, soweit sie dem russischen Staat unlieb seien, nicht
stellte (Prof. Auhagen!), sondern umgekehrt auch den 6000, die
glücklich entkommen waren, keine bleibende Heimstatt bot? Warum mußte er
deutsches Blut abfließen lassen auf den kanadischen Acker, in den
brasilianischen Urwald, in den Paraguayer Gran Chaco? War es außenpolitische
Feigheit, daß er an Rußland kein derartiges Ansinnen stellte? War es
innenpolitische Feigheit,
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daß er die Flüchtlinge übers Meer hin
abschob? Gewiß, der Buchstabe war gewahrt worden, hatten doch die Flüchtlinge
von vornherein Amerika als das Ziel angegeben; aber schlug nicht ein völkisches
Gewissen? Oder war es das meunonitische Bekenntnis der meisten Rußlanddeutschen,
deren Antipathie gegenüber dem Wehrgedanken? Das wäre unvereinbar gewesen mit
dem pazifistischen Bekenntnis der Weimarer Republik!
Was zwang die rußlanddeutschen Flüchtlinge aus dem Land der Vorväter wieder
hinaus? Warum bliebet ihr nicht auf der Scholle, die eure Vorväter gebar und die
ihr mit eurem Herzblut lieb gewannet? Warum zogt ihr weit, weit fort über den
Ozean? 1) Weil es in dem gestutzten Deutschen Reich an Raum
gebrach. 2) Weil das damalige Deutsche Reich kein eindeutiges
Prinzip vertrat und darum des Übels nicht Herr werden konnte. Raum wäre (nach
Professor Auhagen) im Osten vorhanden gewesen, aber der Staat vermochte über
diesen Raum nicht zu verfügen.
*
Wir Reichsdeutschen können uns das ungesprochene und doch so
schwerwiegende Wort der rußlanddeutschen Mäler nicht tief genug einprägen. Es
ist ein Dankruf derer, die hier nur als Gäste weilten; wir aber, wir
Reichsdeutschen, hören wir nicht den Mahnruf aller Ausländsdeutschen? Klingt
nicht aus der Klage der Gegenwart heraus die Anklage der Geschichte?
1920 stand in der deutschen Odessaer Zeitung ein Gedicht aus der
Feder des rußlanddeutschen Lehrers Ketterling, überschrieben "Das Heimatland":
Die Hand ans Herz, ihr
russisch-deutschen Brüder;
Bekennet frei, was euer Heimatland,
Wo ist der Ort, wo eure Wiege stand?
Nicht Deutschland ist's mit seinen Eichenwäldern,
Nein, Rußland ist's mit seinen Steppenfeldern!
Du Heimatland, wo wir zur Welt geboren!
Du Rußland, bleibe unserm Herzen wert,
Denn Deutschland ist ja längst für uns verloren.
Drum lebe wohl, du alte deutsche Erd!
Du Hermannsland mit deinen Runenzeichen,
Mit deinen stolzen tausendjährigen Eichen!
Wer trägt die Schuld, wenn wir es nicht mehr kennen,
Das Mutterland, die Alt-Germania;
Wenn wir das Russenland jetzt unsre Heimat nennen,
Wie andre Deutschen Nordamerika?
Beklagenswert, und manchen rührt's zu Zähren,
Warum kann Deutschland uns nicht, seine Kinder,
nähren?
Warum? Das mag das deutsche Volk entscheiden.
Genug; wir sind zerstreut in aller Welt;
Und dieses Faktum läßt sich nicht bestreiten,
So schwer auch immer die Erkeuntnis fällt. |
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Wo Schutz und Brot und Obdach wir
gefunden.
Da sind zur Untertanentreue wir verbunden.
Das Russenland ward uns zum Heimatlands,
Es nahm die heimatlosen Eltern auf;
Vom Schwarzen Meere bis zum Ostseestrande,
Vom Kaukasus bis zum Ural hinauf ...
Jetzt blüht auf Rußlands Boden deutsche Treue,
Und deutscher Fleiß bebaut das Steppenland.
Und glücklich lebt der Deutsche, der aufs neue
Hier seine traute, liebe Heimat fand.
Mit ganzer Lieb, mit Gut und Blut und Leben
Ist er dem neuen Heimatland ergeben. |
"Denn Deutschland ist ja längst für uns verloren ... Wer trägt
die Schuld, wenn wir uns nicht mehr kennen? ... Warum kann Deutschland uns
nicht, seine Kinder, nähren? ... Warum? Das mag das deutsche Volk entscheiden."
Das deutsche Volk muß es entscheiden! Und nun im Dritten Reich ist die Stunde
gekommen, in der aus der Entscheidung heraus die Folgerung reift.
Das Vermächtnis der zwei Mäler zu Mölln ist wegweisend: 1)
Deutsche Zwietracht schändet deutsche Ehre und vergeudet deutsche Kraft. 2)
Der konfessionelle Hader muß unterbunden werden, er darf keinesfalls in die
Politik hinübergreifen. 3) Die kolonisatorische Befähigung, in
fremde Erde vergeudet, ist Sünde am Volksgut. 4) Das deutsche Volk
hat nicht seine besten Kräfte fremden Völkern als Kulturdünger hinznwerfen.
5) Staat und Volk müssen dafür Sorge tragen, daß auslandsdeutsche
Kolonien nicht rassischer Treue halber zur Inzucht zu greifen brauchen. 6)
Der deutsche Staat muß die Raumfrage irgendwie lösen.
Wie tief und urtümlich deutsche Art im deutschen Blut liegt, das hat so mancher
Möllner durch die Äußerungen Rußlanddeutscher erfahren. Auch den Mennoniten war
das "Holländertum" in Kürze verflogen; dem "Land der Urväter" galt ihr Dank. Als
DR. Dyck, der Leiter des Mennonitenheims, im Sommer 1935 zum
letzten Mal in Ratzeburg und Mölln weilte, schied er in dem Bewußtsein, eine so
köstliche Welt nie wieder erleben zu dürfen. Und dabei lag vor ihm Brasilien,
ein mit Naturschönheiten übersättigtes Land. Warum empfand er die deutsche Erde
als seine Erde, als die köstlichste Erde? Die Naturschönheiten des Lauenburger
Landes waren nur ein äußerer Antrieb. Entscheidender war die mit dieser Erde
verknüpfte Geschichte. Ausschlaggebend aber war der landschaftliche Charakter an
sich, der Wechsel der Landschaftsbilder im Wechsel der Jahreszeiten. Am tiefsten
betrübte ihn dies, daß er nie wieder einen Herbst und darum auch nie wieder
einen Frühling zu sehen bekäme. Der dem nordischen Menschen innewohnende
Charakter trat hier unverhüllt zutage, das Kampfprinzip. Auch da, wo das
christliche Motiv der Auferstehungsgewißheit (Ostern) in das nordische Motiv des
Kampfes (Frühling) hineinwurzelt, ist die Stimme des Bluts bestimmend. Blut und
Boden sind zwei Gewalten, die voneinander nicht ablassen, und wenn Jahrhunderte
und Ozeane trennen.
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Wie ist uns Lauenburgern zumut, wenn wir uns
die Tatsache vergegenwärtigen, daß im letzten Jahrhundert viele Hunderte Polen
hier ansässig wurden, ungelernte Arbeiter, Landarbeiter, Fabrikarbeiter,
Kanalarbeiter, während niederdeutsche Bauernsöhne nach Rußland abwandern mußten,
und nun, heimgekehrt, keinen Platz fanden? Deutsche und schöpferische Kräfte
gaben wir ab, fremde nahmen wir auf. Wie mancher, der im bolschewistischen Staat
zu gebrauchen wäre und hier nur ein Hindernis ist, genießt im Deutschen Reich
Staatsbürgerrecht, während die Rußlanddeutschen, die hierher zurückkehrten und
bluthaft hierher gehören und hier segensreich wirken könnten, den Boden nicht
finden.
Die Rußlanddeutschen ackern auf fremder Erde; ihre Mäler aber reden: daß Sorge
um Glaubensfreiheit und Boden die Brüder hinauszwang; daß Sorge um
Glaubensfreiheit und Wahrung des Charakters, des Lebensrechts und letzten Endes
Blutsrechts, sie wieder nach Deutschland wies; daß Sorge um Glaubensfreiheit und
Boden sie wieder hinauszwang. Und so lehren denn die Mäler der Rußlanddeutschen,
daß der Glaube Gewissensangelegenheit ist, die sich außerhalb der Politik zu
entscheiden hat, daß aber Blut und Boden die Kernprobleme der Politik sind.
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