Lauenburgische Heimat
[Alte Folge]

Zeitschrift des Heimatbundes Herzogtum Lauenburg e. V.
1936


Die Löwen-Apotheke zu Mölln in den Jahren 1844-1860

Erinnerungen einer Sechsundachtzigjährigen.


An dem hochgelegenen Marktplatze, ganz nahe bei der Kirche und dem Rathaus finden wir die alte Apotheke, unser geliebtes Elternhaus, in das Ende 1844 die kleine Familie, aus Vater, Mutter, dem kleinen anderthalbjährigen Paul und seinem sechs Wochen alten Brüderchen Georg bestehend, nach langer, beschwerlicher Postwagenreise ihren Einzug hielt. Dem Vater machte es Spaß, sein ältestes Söhnchen als

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Ersten selbständig über die Schwelle des neuen Heims gehen zu lassen. Dieses Meisterstück brachte das Bübchen mit Stolz fertig und blieb dann staunend und strahlend stehen, da es sich umgeben fand von einem überwältigend großen und schönen Bilderbuche. Der schmale Vorflur des Hauses war in 1 1/2 Meter Höhe mit hübschen Delfter Kacheln bekleidet, deren mannigfaltige Bilder den Kleinen in Entzücken versetzten, wie sie später uns Kindern allen immer hochinteressant waren.

Ganz so entzückt wie der kleine Paul wird die junge Mutter wohl nicht gewesen sein von dem ersten Eindruck, den das neue Heim auf sie machte. Schon der merkwürdige Hausspruch von Jesus Sirach, der auf einem über die ganze Front laufenden Balken eingeschnitzt ist, klingt nicht gerade ermutigend; er lautet: "Ach, wo kompt doch das bös Ding her, daß alle Welt so voll Falschheit ist!" Beim ersten Rundgang durch das Haus wird ihr Mut noch etwas mehr gesunken sein. Wie würde sie die vielen auseinander liegenden großen, kleinen und allerkleinsten Räume, Ecken und Winkel so in Ordnung halten können, wie sie es bisher gewohnt gewesen war sowohl in ihrem schönen, solid gebauten Elternhaus der Stolzenauer Apotheke, wie auch in der schmucken Libenauer Apotheke, wo sie die drei ersten Ehejahre verlebte?

Ja, unser liebes Haus in Mölln war schon damals sehr alt und sehr verbaut, aber gerade darum für uns Kinder so herrlich interessant, wie es kein anderes in ganz Mölln hätte sein können. An dem kachelbekleideten Vorflur lag rechts der geheiligte Raum des Hauses, die stets blitzsauber gehaltene Apotheke, links das gemütliche Wohnzimmer mit seinen freundlichen, hellen Eschenmöbeln und eingebauten Glasschränken. Eine Glastür schloß den Vorflur mit diesen beiden hellen, regelmäßig gebauten Räumen ab; dahinter begann der interessante Teil des sehr tiefen Hauses. Da lag, mit dem Wohnzimmer durch eine Tür verbunden, eine ziemlich geräumige, völlig dunkle Stube, die ihr spärliches Licht erhielt durch ein winziges Fensterchen von der Küche her und ein zweites kleines, das über der Tür des Wohnzimmers angebracht war. Dieser dämmerige Raum wurde im Laufe der Jahre immer von irgend jemand als Schlafstube benutzt, am meisten wohl von unserem Vater bei allen Krankheitsfällen in der Familie. Hinter dieser "dunklen Kammer", wie sie genannt wurde, lag die ziemlich große, helle Küche, die den Abschluß der linken Seite des Hauses bildete, mit der in die Küche hineingebauten Speisekammer. Die halbe Küchenwand war, wie der Vorflur, mit echten Delfter Kacheln bekleidet. Beim Einzug der jungen Frau bestand zu ihrem Schrecken die einzige Feuerstelle in der Küche aus einem großen, offnen, aus Ziegelsteinen erbauten Herde, wie man ihn heute kaum mehr in den primitivsten Bauernhäusern findet. Diesem Zustande ist übrigens schon im nächsten Jahre abgeholfen und ein geräumiger, gut brennender Sparherd machte die Küche wärmer und gemütlicher, wenn sie auch noch lange keinen Vergleich mit den schmucken Küchen der Neuzeit hätte aushalten können. Alles war damals in der "guten alten Zeit" äußerst primitiv. Es gab weder Wasserleitung, noch elektrisches Licht, ja, noch nicht einmal Petroleum. Das Wasser mußte durch die


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Mädchen in zwei großen hölzernen Eimern, die an schweren Ketten an einem auf den Schultern zu tragenden Joch hängen - Tracht nannte man es -, von der Pumpe in die Küche geholt werden. Unser Haus lag auf einem erheblichen Hügel am Marktplatz unterhalb der noch viel höher gelegenen Kirche. Die nächste Pumpe lag ganz am unteren Ende der Marktstraße. Es war also eine ganze Aufgabe für die Mädchen, wenn sie abends nach getaner Arbeit sich dem Geschäft des Wasserholens widmen mußten. Eine rot und grün gestrichene Riesenwassertonne stand in einer Ecke der Küche; die mußte allabendlich bis an den Rand gefüllt werden. Was unsre heutigen Mädchen wohl zu dieser Arbeit sagen würden? An dieser Wassertonne hing zum Ausschöpfen eine stets blitzblank geputzte Messingwasserkelle. Warum es uns Kindern verboten war, aus dieser Kelle zu trinken, war uns unbegreiflich, jedenfalls schmeckte das Wasser direkt aus dem blanken Messing sehr viel besser, als aus jedem Glas. Ich frage mich jetzt oft, wie es möglich gewesen ist, daß ein oft noch junges Mädchen den ganzen Wasserverbrauch für eine zu Zeiten zwölfköpfige Hausgenossenschaft heranschleppen konnte.

Allerdings war man in damaliger Zeit, wie in allem, so auch im Wasserverbrauch rührend genügsam. Die Waschbecken waren den nach jetzigen Begriffen winzigen Naschtischchen angepaßt; man kannte es eben nicht anders und war zufrieden dabei. Bäder im Hause oder eine Warmbadeanstalt in der Stadt gab's nicht, im Sommer badete man munter im See, und in der kälteren Jahreszeit wurde am Sonnabend von Kindern und Erwachsenen eine große, gründliche Wäsche vorgenommen in den für diesen feierlichen Akt gut durchwärmten Schlafzimmern. Für die Hauswäschen - und die waren bei uns wahrlich nicht klein! - wurde das Wasser, wenn man Glück hatte, aus den Dachrinnen aufgefangen, sonst mußte es sehr mühsam durch Waschfrau und Mädchen vom weitab liegenden See heraufgeholt werden. Mit hartem Pumpenwasser wusch und spülte man nicht. Der weite Weg durch verschiedene Straßen zum See mußte also oft zurückgelegt werden, bis die Behälter in der Waschküche alle gefüllt waren. Am nächsten Tage ging's dann früh um 5 oder im Winter um 6 an die Wäsche; Hilfsmittel, wie Wasch- und Wringmaschinen, gab's noch nicht, aber ich glaube, die Menschen waren damals leistungsfähiger, sonst ist es nicht zu verstehen, wie vier Hände die Riesenwäsche an einem Tage bewältigen konnten, allein wenn man bedenkt, daß damals groß und klein nur weiße, selbstgestrickte Strümpfe trug, die immer sehr sauber sein mußten. Wir sieben Kinder kamen wohl kaum je mit zwei Paaren in der Woche aus. Leibwäsche brauchte man damals auch viel mehr, die Unterwäsche war aus derbem Stoff gefertigt, die gestickten Beinkleider mußten bei den kleinen Mädchen sichtbar unter dem Kleidersaum hervorstehen, weiße Unterröcke, wie es sie heute nicht mehr gibt - oder verdienen die seidenen Läppchen den Namen? - trug man im Sommer drei übereinander, alle wohlgestärkt und geplättet. Die hellen Kattunkleider nahmen auch viel Arbeit in Anspruch mit ihrer Rockweite und den Volants und Aufsäumen. Ach, ich mag ja gar nicht daran denken, welche Arbeit all

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das für unser fleißiges zartes Mütterchen war, denn eine Plättfran hat unser Haus nie gesehen, auch nicht für die feine Wäsche des Hausvaters. Aber wir sind ja noch mitten in der Wäsche und noch lange nicht beim Plätten! Da kam noch erst mal die schwere Arbeit des Spülens. Heute dreht man einfach den Wasserhahn in der durchwärmten Waschküche aus, läßt das Wasser nach Herzenslust fließen und das Zeug durch die Wringmaschine laufen. Damals mußten Waschfrau und Mädchen, jede mit zwei hochbepackten Körben voll nassem Zeug an der Tracht, hinunter zum See zum Spülen, wo extra Waschstege gebaut waren, worauf sie knien konnten. Im Winter war es oft schlimm, dann wurde mit dem Beil ein großes Loch in das Eis des Sees geschlagen, und die Wäsche fror einem fast unter den Händen.

Am anderen Tage kam dann der vergnüglichere Teil des Waschfestes, dann wurden in dem kleinen Garten hinter dem Hause viele Leinen gezogen, und alle verfügbaren Hände halfen frühmorgens beim Aufhängen, beim Abnehmen und Legen der Wäsche. Die Waschfrau kam dazu nicht wieder. Drehmangeln waren damals noch ganz unbekannt. Auf dem Hausboden stand eine riesige Ziehrolle, deren großer, von einer Menge schwerer Feldsteine gefüllter Kasten an Griffen durch vier starke Arme hin- und hergezogen wurde. Durch diese Bewegung vollzog sich die Glättung des auf bewegliche Rundhölzer gewickelten Zeuges, die unter dem Kasten lagen. Nach einigen Hin- und Herzügen wurde der schwere Kasten auf einer Seite hochgekippt, das Zeug von dem "Knüppel" abgestreift und ein neu bewickelter daruntergelegt. Für das Mangelgeschäft konnten viele Hände gebraucht werden, und wir Kinder wurden schon früh dabei angestellt und sahen gerade diese Arbeit als ein besonderes Vergnügen an. So ging sie schnell und lustig vonstatten.

Aber nun habe ich mich allerdings bei der Wäsche aufgehalten und Ihr müßt doch noch das ganze Haus kennen lernen. Hinter der



 

Glastür des Vorflurs dehnte sich eine große, sehr tiefe, halbdämmerige Diele, schachbrettartig mit Hellen und dunklen Steinfliesen belegt. Viele Türen führten von dieser Diele aus in die verschiedensten Räume, in die dunkle Schlafstube, Küche, Keller, daneben in zwei sogenannte Butzen, eine Art Alkoven, ins Laboratorium und Waschküche, in die

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Kinderstube, in Hof und Garten und ganz am Ende der Diele die große Glastür mit blanken Messingdrückern zu der großen "besten Stube". Das Haus war in der Mitte und an der rechten Seite fast doppelt so tief, wie die links mit der Küche abschließende. Dieses so gebildete Viereck war unser Hofplatz. Die obenerwähnte beste Stube wurde, solange wir Kinder klein waren, nur bei festlichen Gelegenheiten benutzt, wie Weihnachten, bei den einfachen kleinen Gesellschaften oder wenn unsere Großmama aus Stolzenau zum Besuch kam. In späteren Jahren wurde sie ein immer bewohntes, gemütliches besseres Wohnzimmer, verlor dadurch aber sehr viel von ihrem Nimbus. Die an diesem Zimmer liegende Kinderstube, ein langer, schmaler Raum, wurde im Laufe der Jahre reichlich eng für uns sieben, zumal sie im Winter als tägliches Eßzimmer auch noch Platz für Vater, Mutter und den Provisor hergeben mußte. Da war es gut, daß in unserem Elternhause die strenge Sitte herrschte, daß wir Kinder etwa bis zum 11. Jahre stehend die Mahlzeiten einnehmen mußten; so genügte für uns der schmale Platz zwischen Wand und Tisch. Im Sommer wurde auf der breiten Diele gegessen. Das Kinderzimmer war denkbarst einfach ausgestattet, ein langer breiter Tisch in der Mitte, der je nach Bedarf verlängert werden konnte, eine Anzahl einfacher Stühle, ein nicht allzu geräumiger Schrank, in welchem jedes Kind einen bescheidenen Platz für seine Schulsachen hatte, die es, wie all' seine Bücher, sehr ordentlich halten mußte, das war alles. Einmal in der Woche ließ unser Vater sich alle Ranzen, Schulmappen, alle Hefte und Bücher vorführen. Wehe uns, wenn nicht alles in Ordnung war, wenn in einem Buch ein Eselsohr zu finden oder der Schutzumschlag aus blauem Papier, mit dem er selber sehr umständlich und akkurat unsre Bücher versah, fleckig war! Weniger peinlich ordentlich hielten wir die drei Kommodenschubladen, in die wir drei Mädchen Handschuhe, Pelzsachen, Handarbeiten, Tuschkasten, Malvorlagen usw. hineinpfropften. Die Schubladen wurden selten von unsrer Mutter revidiert, wahrscheinlich, weil diese Allerweltskommode im Zimmer ziemlich unsichtbar war. Sie war in die Wand hineingebaut und ragte mit ihren tiefen Schubladen in den Nachbarhof hinein, gerade so wie der Glasschrank in der Vorderstube in den Flur des Nachbarhauses. Dieses Häuschen hat vor unserer Zeit mit zur Apotheke gehört, daher wohl diese Intimität.

Bevor wir nun die Kinderstube verlassen, muß ich Euch noch zu einer Kuriosität führen. Durch eine schmale Tür gelangen wir in ein winziges Stübchen, die sogenannte Leinenkammer, deren eine ganze Wand der große, immer wohlgefüllte und wohlgeordnete Leinenschrank einnahm. Außer diesem gewichtigen Stück war dieser Raum das Asyl unsrer ganzen Puppenfamilie samt deren Betten, Wiege, Kommode, Kochherd und sonstigen Dingen, die die Kinderstube zu sehr beengt hätten. Aus der Leinenkammer kam man in ein noch kleineres Räumchen, das wirklich zu nichts zu brauchen war, denn man stand beim Eintritt gleich vor einer weiteren Tür, so daß der Zwischenraum kaum Platz zum Umdrehen bot. Uns Kindern war dies ein willkommenes, leider allzu bekanntes Versteck, öffnete man

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nun auch noch die letzte Tür, so befand man sich plötzlich im Freien auf einem kleinen Balkon, von dem man in den tief unten gelegenen Garten sah. Das abschüssige Terrain, auf dem das Haus erbaut war, bewirkte nämlich, daß das, was vorn Erdgeschoß war, nach hinten hin eine hochliegende erste Etage bildete, so daß die darunter gelegenen Räume nicht Keller, sondern geräumiges Souterain waren. Dieser winzige Balkon nun war nicht etwa zu dem ästhetischen Zwecke erbaut, eine schöne Aussicht zu genießen; man brauchte nur die rechts liegende Tür zu öffnen, so blieb man bei dem Einblick in ein nettes kleines Gemach nicht lange im Unklaren, wohin die vielen Türen schließlich führten. Zu diesem Räumchen hatten aber außer den Eltern nur die größeren Kinder Zutritt, für Gehilfen und Mädchen gab's unten im Garten einen ähnlichen Palast, für die kleinen Kinder - doch nein, das zeig ich Euch erst oben. Warum an diesem Balkon eine Winde mit eisernen Ketten in späten Abendstunden mit unheimlichen Rufen von oben nach unten in Betrieb gesetzt wurde, das überlasse ich Euch glücklichen W.-C.-Besitzern auszudenten, von solchen vorsintflutlichen Zuständen könnt Ihr Euch keinen Begriff mehr machen.

Auf die Diele zurückgekehrt, finden wir dort noch einen für uns Kinder hochinteressanten Schrank. Er bestand aus vielen kleinen Schubladen, die durch zwei Türen verschlossen wurden. In diesen Schubladen fand sich alles, was man täglich in der Küche brauchte, an Reis, Mehl, Graupen, Grütze usw., auch Zitronen und Gewürze. Am sichersten wußten wir die Schublade zu finden, worin sich der selbst kleingeschlagene Zucker befand, war Zucker doch damals noch ein Luxusgegenstand, der sorgsam unter Verschluß gehalten wurde. Daß Zucker für den Aufbau des kindlichen Körpers dringend nötig ist, wußte man damals noch nicht. So entsprang das Zuckernaschen der Kinder wahrscheinlich einem unbewußten körperlichen Bedürfnis und verdiente wohl nicht die oft strenge Bestrafung. Neben diesem einfachen Küchenschrank stand ein kolossaler, zum Haus gehörender Kleiderschrank, aus dunkler Eiche geschnitzt mit Messingbeschlägen. Er reichte fast bis zur Decke und barg wohl die Garderobe der ganzen Familie, so weit sie nicht täglich gebraucht wurde. Auf dem Schrank lagen die Feuereimer und Feuerhaken, wie sie je nach der Größe des Hauses in einer Anzahl von 2 bis 8 Stück vorgeschrieben waren. Diese Eimer bestanden aus dickstem Rindsleder, sie sahen aus wie Riesenwürfelbecher mit Lederbügel zum Tragen. Beim ersten Feuerlärm mußten diese Eimer und Haken sofort zur Feuerstelle gebracht werden. Zu überhören war dieser Feuerlärm nicht, er wurde äußerst geräuschvoll in Szene gesetzt, zuerst durch Rufen: "Feuer! Feuer!", durch unausgesetztes Tuten auf dem Nachtwächterhorn, durch Trommeln, Glockenläuten und Drehen einer Knarre. Jeder Hausbesitzer gehörte ohne weiteres zur Feuerwehr als Handlanger. Die Arbeit der Handlanger bestand hauptsächlich darin, daß sie die vielen Feuereimer vom See und aus den Pumpen gefüllt zu den großen Kübeln beförderten, aus welchen die Feuerspritzen gespeist wurden. "Durch der Hände lange Kette fliegt der Eimer" - genau, wie in Schillers "Glocke". Am Tage nach dem Feuer holte sich ein jeder seine mit
 

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Namen gezeichneten Eimer und Haken wieder, durfte sie jedoch nicht gleich wieder an ihren Platz bringen, bevor sie durch eine Kommission auf ihre Dichtheit hin geprüft waren. Da rief's an einem der nächsten Tage durch die Straßen: "Morgen fröh, Klock acht, Fürremmer vor die Husdör!" Dann mußten alle Feuereimer gefüllt vor den Türen auf der Straße stehen, wurden von der Kommission geprüft, und etwa undichte wurden beanstandet und mußten auf Kosten des Hauswirts ausgebessert werden. Dann erst wurden sie mit der großen Leiter auf den Schrank zurückgebracht. Ach ja, wie ich eben in Gedanken die Leiter heruntersteige, fällt mein Blick auf einen Gegenstand, den Euch zu zeigen ich fast vergessen hätte. Zwischen Schrank und Küchentür stand ein Riesending, das man in jeder Kirche als einen überlebensgroßen Taufstein angesehen hätte. In unserm Apothekenhaus aber ging die Sage, es sei ein alter, aus EINEM Stein gehauener Mörser. Dieses Ding wurde aber weder zu dem einen Zweck des Taufens noch zum andern des Stoßens je gebraucht, sondern galt nur als Kuriosität. In ALLE Winkel der großen Diele mit mir zu kriechen, kann ich Euch nicht zumuten, aber ins Laboratorium müßt Ihr mir noch folgen. Von der Hinterdiele aus führte eine schmale Steintreppe durch das aus unbehauenen riesigen Findlingen bestehende Fundament. Dieser Weg kam uns immer vor wie ein Weg ins Burgverließ. Das Laboratorium, in dem wir Kinder uns aber selten aufhalten durften, war uns sehr interessant mit seiner großen Saftpresse, den vielen kleinen Feuerstellen, den verschiedenen kupfernen Tiegeln, den sonderbar geformten Glaskolben, dem umständlichen Destillierapparat, in welchem Hammann, unser Faktotum, Wasser "düsilierte", und dabei versuchte, uns den geheimnisvollen Vorgang zu erklären, wie das Wasser durch das Feuer erst zu Luft würde und dann nachher in den angefügten Glasbehälter als Wasser zurückkehrt. Ganz klar wurde uns die Sache dadurch nicht, immerhin waren wir stolz, daß wir in der Physikstunde einen Vorsprung vor anderen hatten, wenn etwas behandelt wurde, das wir aus eigener Anschauung schon kannten. -

Die neben dem Laboratorium liegende Waschküche war uns sehr vertraut. Frau Schipmann, eine andere Waschfrau ist in all den Jahren nicht in unser Haus gekommen, plauderte gern mit uns Kindern und gab uns willig von dem hochschäumenden Seifenwasser für unsere Puppenwäsche.

Nun können wir auch von hier gleich einen Blick in unser Gärtchen werfen. Ich hab's vor einigen Jahren einmal wiedergesehen und hab mich staunend gefragt, wie es möglich gewesen ist, daß dieser kleine Fleck Erde, jetzt einem Schutthaufen gleichend, solch ein Eldorado für uns Kinder sein, wie es so viel Anmut und Poesie in unser Leben bringen konnte. Es erschien uns damals wie ein kleiner Park mit seinen zwei großen, herrlich aromatische Früchte tragenden Apfelbäumen und dem einen Birnbaum neben der Laube, mit seinen blühenden Sträuchern, gelben Cocherus, weißen und lila Syringen neben dem Goldregen. Mit den Seitenrabatten bepflanzt mit Blumen, die es heute kaum noch gibt, wie Escholzien, Nachtmützen nannten wir die gelben spitzen Blüten, blaue Nemophilen, Aurikeln in verschieden-


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sten Sammetfarben, Venusspiegel, Männertreu, Rittersporn, deren Blüten wir gern auseinanderbogen, um drinnen nach Entfernung der Deckblätter mit etwas Fantasie Pferd und Wagen zu erkennen, Löwenmaul, blutendes Herz und Jungfer im Grünen. Dann der unsrer Meinung nach große Rasenplatz mit den kleinen, sorgsam gepflanzten  Astern, Levkojen- und Resedabeeten. Das Schönste im Garten war das Lieblingsbeet unserer Mutter; es wuchsen nur die jetzt ziemlich  verachteten rosa Monatsrosen und die bescheidenen Zentifolien darauf, die aber so zärtlich gepflegt und behütet wurden, daß wir uns sorglich hüteten, beim Spielen auch nur ein einziges Knösplein zu  knicken, um unser Mütterchen nicht zu betrüben. Die Laube, aus kräftigen, grün gestrichenen Latten aufgeführt und mit wildem Wein bewachsen, war für uns Kinder alles, Märchenschloß und Puppenschneiderstube, hier wurde Mutter und Kind gespielt, gelegentlich war sie auch ein Schmollwinkel, oder ein Retiro für einen reuigen Sünder, auch zogen die großen Brüder sich oft zum ruhigen Lernen dorthin zurück. In unbewachten Augenblicken kletterten wir zu gern am Sparrenwerk empor auf das schräg abfallende Dach, um in Schmidt-Landaus Hof, Tischler Redeckers Werkstätte oder Schneider Gresmanns Fenster sehen zu können. Unser kleiner Garten war ganz eingeschlossen von Nachbarhäusern und Höfen, das war hochinteressant. Durch eine Plankenspalte konnten wir in einen Ziegenstall, durch eine andere in Madame Schröders Höfchen sehen. Aber nie erschien uns das Gärtchen so entzückend, ja geradezu geheiligt, als an schönen, sonnigen Sonntagsmorgen, wenn wir in unseren frischen Kattunkleidern und weißen Schürzen, die Brüder in blauweißgestreiften Waschkitteln, ganz "sedat", wie unser Vater sagte, also hübsch ruhig, unseren Sonntagskleidern zuliebe, uns darin aufhielten. Wir empfanden das dann merkwürdigerweise nicht als lästigen Zwang, sondern ganz unbewußt unsrer eigenen Stimmung angepaßt. Mit Spannung warteten wir, während wir unser Frühstück verzehrend immer rund um den Rasen gingen, daß die nahen Kirchenglocken anfangen sollten zu läuten. Nach Ton
und Rhythmus des Geläutes sangen wir: "Ulenspägel liggt begraben upn Möllnschen Kirchhof", das erschien uns ganz in der Ordnung, als zum Läuten gehörend. Jedes Möllner Kind tat es, und uns wurde es auch nicht untersagt. Wenn die Glocken verstummten, war es Zeit für uns, ins Haus zu gehen; dann machten sich die Eltern und alle
schulpflichtigen Kinder für den Kirchgang fertig, an dem wir ganz selbstverständlich und gern teilnahmen. Die wunderschöne alte Kirche wollen wir später zusammen besehen, jetzt will ich Euch erst noch mit den oberen Räumen des Hauses bekannt machen.

Eine breite, ehemals sehr schön gewesene Eichentrcppe führt hinauf, macht aber an einer Biegung halt vor der stets verschlossenen Tür der Vorratskammer. Diese war dunkel und klein, hatte kein Fenster, aber sie barg unermeßliche Schätze an Dörrobst, Korinthen und Rosinen. Die große Kuchentrommel mit den aus der Weihnachtszeit ins neue Jahr hinübergeretteten Pfeffernüssen stand hier, ein Korb mit Wal- und Haselnüssen; auch gab's hier immer sorgsam verwahrte Reste von irgendeinem Geburtstagskuchen. Der Schlüssel zu dieser

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wundervoll duftenden Kammer hing mit allerlei anderen Schlüsseln an einem gelben Messingring. Sahen wir nun unsere Mutter mit diesem Schlüsselbunde die Treppe hinaufgehen, so schlichen wir mit Wonne hinterher und versuchten, durch die schmale Tür mit in die Kammer zu schlüpfen. Wir waren ganz sicher, etwas Gutes in den
Mund gesteckt zu bekommen. Wir waren an große Bescheidenheit gewöhnt und schon selig, wenn wir eine Pflaume oder Pfeffernuß ergatterten. Alles, was dieser Vorratskammer entstammte, hatte einen ganz besonderen Zauber. Wenn das "Schlüsselbund mit dem gelben  Ring" einmal verlegt war, entstand große Verlegenheit im Hause, da alle Schlüssel an dem Bund zu ganz unentbehrlichen Wirtschaftsschränken gehörten. Deswegen wurde mitunter eine kleine Prämie für den glücklichen Finder ausgesetzt.

Der Vorratskammer gegenüber lag eine gleich dunkle Kammer, in der Hamann allerlei Gerätschaften verwahrte, die er zu seinen für die Apotheke nötigen Arbeiten brauchte. Im ersten Stockwerk angelangt, steht man vor einer ganzen Reihe großer und kleiner Türen, die in eine Menge Räume und Räumchen führten.

Geradeaus lag das sehr kleine, aber freundliche Gehilfenzimmer mit einem riesigen, runden, braunen Kachelofen, der vom Vorplatz aus geheizt wurde. Rechts vom Vorplatz nach dem Garten hinaus lag ein schönes großes Zimmer, das im Wandel der Jahre allgemeines Kinderschlafzimmer, beste Stube, Elternschlafzimmer oder Kinderstube war. Da das Haus nämlich so sehr unzweckmäßig gebaut war, wechselten wir, je nach Bedürfnis, oft mit den Räumen. Neben diesem Zimmer, aber mit einer Tür verbunden, lag das lange schmale Gästezimmer, das immer nur diesem Zwecke gedient hat. In dem roch es so herrlich nach Großmama mit jenem unbestimmbaren, feinen, anheimelnden Duft, wie er oft den Räumen und Sachen alter, vornehmer Damen anhaftet. Es war stets ein feierlicher Augenblick, wenn wir unsere schöne stattliche Großmama mütterlicherseits, die nach langer beschwerlicher Postreise ankam, in ihr Zimmer begleiten nnd ihr beim Auspacken helfen durften. Freudig klopfte uns das Herz, wenn dabei die bekannten "Boltjen" für uns zum Vorschein kamen. Es waren recht einfache, braune Bonbons, aber weil Großmama sie nach hannoverscher Art "Boltjen" nannte und sie uns eben von Großmama geschenkt wurden, waren sie uns etwas ganz besonderes. Den Boltjen folgte dann noch irgendein kleines Geschenk, ein Täschchen, ein vielversprechendes Wunderknäuel, ein Taschenmesser oder dergleichen für die Knaben - jedenfalls zogen wir mit unseren Schätzen beseligt ab und ließen den Gast erst einmal ausschlafen.

Währenddessen setzen wir unsern Rundgang fort und wollen versuchen, kein verstecktes Kämmerchen zu überschlagen. Neben der Gehilfenstube liegen vier in einander gehende Kammern; in der ersten, nettesten, schliefen zu Zeiten ein bis zwei Brüder; von den drei dahinter liegenden war eine uns noch immer interessanter als die andere. Von der ersten konnte man durchs Fenster in die breite Dachrinne zwischen unserm und dem Nachbarhause gelangen, aus der Hamann im Winter den Schnee auf die Straße schaufelte. Das Hinausklettern

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in diese Rinne war uns Kindern natürlich nicht erlaubt. Da die Eltern aber gar nicht auf den Gedanken kamen, es uns zu verbieten, wagten wir mitunter dieses Experiment. Es war doch gar zu herrlich, von dort oben über viele Häuser und Straßen blicken zu können. In den beiden letzten Kammern führten allerlei außer Gebrauch gesetzte Gegenstände ein beschauliches Stilleben. Ein schönes altes Spinnrad, das wir nach vieler Mühe zum regelmäßigen Schnurren brachten, eine Haspel, die nach einer bestimmten Anzahl Drehungen einen komischen Knack von sich gab, ein Zeichen für die ehemalige Spinnerin, ein messingnes Kohlenbecken mit einem wunderschön geformten, aber jetzt ganz verbeulten Teekessel, eine ganz alte Öllampe, ein riesiger, mit Seehundfell überzogener und mit Messingbeschlägen verzierter Reisekoffer und allerhand anderes. Die letzte kleine Kammer war der Aufbewahrungsort für ausrangierte oder augenblicklich außer Betrieb gesetzte Spielsachen und solche, die zuviel Platz in der Kinderstube einnahmen und nur zu besonderen Gelegenheiten heruntergeholt wurden. Sie nahm fast die ganze Vorderfront ein, nur der daneben liegenden  Giftkammer einen schmalen Platz lassend. In der Mitte stand ein langer, breiter Tisch mit verschiedenen Waagen darauf, daneben die vielen blanken Gewichte: Pfund, Lot und Unzen. Rings an den Wänden waren festgezimmerte große Klappkästen, gefüllt mit all den unzähligen medizinischen Kräutern, wie sie früher in Apotheken gebraucht wurden zu den selbstbereiteten Extrakten, Salben, Pflastern und Medikamenten. Jetzt wird das meiste wohl fertig aus Fabriken bezogen. Über den Klappkästen waren die vielen Schubfächer, darüber Borte mit vielen Gläsern, Kruken und Schachteln mit ihrem geheimnisvollen Inhalt, die dem Raum den gewürzigen Duft gaben, wie man ihn nur in Apothekenhäusern findet und gegen den selbst wir Apothekerkinder nicht abgestumpft waren, ihn vielmehr als besonders Schönes empfanden. - Der "dunklen Kammer" des Erdgeschosses entsprechend, war oben eine ebensolche, die aber besser benutzt werden konnte, da sie große Fenster nach der Materialkammer und der Treppe hatte. Dieser Raum diente auch als Schlafzimmer.

Bevor wir dem Hausboden noch einen kurzen Besuch abstatten, müssen wir einen Blick tun in einen tiefen, schmalen Gang zwischen der großen und der Gehilfenstube. Zu welchem Zweck dieser durch ein kleines Fenster spärlich erhellte Gang vor Jahrhunderten angelegt oder beim Bau freigelassen wurde, ist durchaus unverständlich. Unsre
Eltern haben ihn aber einem außerordentlich praktischen Zwecke nutzbar gemacht. Ganz am Ende des Ganges unter dem immer geöffneten Fensterchen war ein niedliches kleines Thrönchen erbaut mit aufklappbarem Deckel. In seinem Innern barg dieses Thrönchen eine ziemlich umfangreiche irdene Kruke. Wenn ich nun verrate, daß, wenn eins der Kinder mal in der Kinderstube fehlte oder vergeblich gerufen und gesucht wurde, es immer hieß: "Der oder die wird wohl auf'r Kruke sein", so werdet Ihr das Weitere schon erraten. "Auf'r Kruke" saß man so gemütlich und wohlgeborgen und kein Ruf der Außenwelt konnte einen erreichen. Wir ganz alten Leute können noch heute das harmlose Wort "Kruke" nicht hören, ohne uns dabei verständnisinnig zu-

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zulachen. Darum durfte ich dies Wichtige aus unserm Kinderleben nicht vorenthalten.

Also nun endlich an einer dunklen Butze, an der Apfel- und Mehlkammer und der Mädchenkammer vorbei über eine sehr schmale, steile Treppe hinauf zum Boden. Da muß in einer Ecke noch unser großes hölzernes Schaukelpferd stehen, in der es jahrelang seinen wohlverdienten Lebensabeno genoß. Es hatte brav seine Schuldigkeit getan, hat sechs kühne Reiter und Reiterinnen getragen und blieb immer jung und schön mit seiner fliegenden Mähne, seinen steifen, innen knallrot gemalten Ohren, die uns einen sichereren Halt boten als der Zügel, mit seinem scharlachroten, weitgeöffneten Rachen und den blitzenden weißen Zähnen. Wo es später blieb, weiß ich nicht, ich meine immer, es müsse dort oben noch stehen, habe mich aber vor einigen Jahren durch einen wehmütigen Erinnerungsblick davon überzeugen müssen, daß die Stätte leer ist.

Die drei Hausböden boten sonst nichts Bemerkenswertes, es sei denn das große, in den Fußboden eingelassene Fenster, das der ohnehin ganz hellen Provisorstube noch mehr Licht gab. Uns Kindern machte es immer Spaß, durch dieses Fenster hinunterzusehen, das war doch sicher etwas Verbotenes, und das hat ja immer Anziehungskraft! -

So, damit wären wir wohl fertig mit dem Rundgang durch das Haus!


 


 


 

 

 

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