Lauenburgische Heimat
[Alte Folge]

Zeitschrift des Heimatbundes Herzogtum Lauenburg e. V.
1937


Das zweite Gesicht.

Ein heimatlicher Bericht im Lichte der Forschung.

Von Kreisschulrat i. R. HEINRICH SCHEELE.

I. 

In dem vorangehenden Aufsatz über die Julzeit im Lauenburger Land ist uraltes Glaubensgut berührt. Vieles davon wird in seinem Sinn nicht mehr verstanden, anderes harrt noch der genaueren Erkundung. Doch zu allermeist wird es nicht mehr geglaubt; denn jene Vorstellungswelt ist ungemein "kulturflüchtig". Die eingehende Darstellung der Volksglaubensreste will natürlich keinen neuen Glauben wecken; sie soll aber Ehrfurcht bewahren helfen und möchte auf keinen Fall die Dinge als "alten Hühnerglauben" angesehen oder ironisiert wissen. Die folgenden Zeilen wollen darum denen dienen, die ihr Volksgut lieben und dennoch die Frage nach dem darin vorhandenen Wahrheitsgehalt nicht unterdrücken mögen. Was hat es mit der "Vorschau" auf künftige Ereignisse auf sich? Wie kommt es, daß die Erscheinungen des 'Wau' immer wieder erlebt wurden? Wie kann ein Spökenkieker einen "Leichenzug" vorhersehen? Allgemein gefaßt: KANN ES "GESICHTE" GEBEN? WENN JA, WIE STEHT ES UM DEN WAHRHEITSGEHALT SOLCHER ERSCHEINUNGEN?

Es ist soeben ein Werk erschienen, das ausführlich das "Zweite Gesicht" in Niederdeutschland nach seinem Wesen und Wahrheitsgehalt behandelt 1). Der Verfasser DR. Schmeïng ist Niederdeutscher. Er hat von seiner Jugend her den von ihm behandelten Fragen nachgehangen. Mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft hat er nun die Erzählungen vom Vorschauen zukünftiger Ereignisse, wie sie auf unserm Gebiete umgehen, durchdacht; er hat die Vorschauer ausgesucht, sich mit ihnen unterhalten und hat sie auch in ihrer Beanlagung in wissenschaftlichem Verfahren geprüft. Das Ergebnis liegt vor.

Der Glaube an die Vorschau ist weit verbreitet. "Das Vorschauen ist innerhalb Deutschlands im wesentlichen eine niederdeutsche Eigenschaft." Es gibt Tausende von Erzählungen dazu. Der Glaube an das Vorschauen hat ein Hochgebiet zwischen der Ems und der Lüneburger Heide. Auch Schleswig-Holstein und Lauenburg gehören zu den bevorzugten Gebieten. Unser Volkskundler G. Fr. Meyer-Kiel besitzt eine Sammlung solcher Vorschauerzählungen, und eine von diesen, aus Lauenburg ausgenommen, die auch von Schmeïng benutzt wird (S. 140), sei hier zur Verdeutlichung des Tatbestandes als Beispiel wiedergegeben:

"In Seedörp is mal een abends över den Kirchhof gahn, un dor süht he, dor gravt einer an'n Graff. He geiht dar ran un fragt: 'Wat gravst du hier denn so lat an'n Abend?' 'Dar schast du rin', seggt de anner. He  verfehrt sik, geiht to Hus, ward krank un blifft dod."

Es handelt sich hier um ein Vorgesicht ganz besonderer Art.
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1) Das "Zweite Gesicht" in Niederdeutschland. Wesen und Wahrheitsgehalt. Von DR. Karl Schmeïng. (Barth, Leipzig 1937. 200 S. Preis 10,50 RM.) Zitierte Stellen sind in Anführungszeichen gesetzt

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Der Schauende sieht sein eigenes Grab. "Er stirbt nicht, weil sein Todestermin schon schicksalshaft feststeht", sondern er selbst stellt durch sein Vorgesicht die Uhr seines Lebens auf die bestimmte Stunde.

Einen tieferen Einblick in das Wesen solcher Vorschangesichte haben erst die letzten Jahrzehnte gebracht in Gestalt der eidetischen Forschungen. Was versteht man unter der "eidetischen" Befähigung, der Anlage zum "Bildschauen"?

"Eines Tages erzählte ein elfjähriger Schüler auf Grund einer Beobachtungsaufgabe, wie eine Kreuzspinne ihr Netz anlegt. Die Schilderung des Jungen war lebendig und geradezu dramatisch. Es fiel auf, daß der Schüler dabei aufmerksam beobachtend zur Wandtafel blickte. Auf meine Frage: 'Warum siehst du dauernd zur Tafel?' antwortete er: 'Da sehe ich es besser'. 'Was denn?' 'Die Spinne mit dem Netz.' Der Schüler gab dann auf Verlangen die Stelle der Tafel genau an, an der er das Anschauungsbild des Netzes sah; auch die Spinne hatte ihren jeweils bestimmten Ort, wie er durch den Fortgang ihrer Tätigkeit bestimmt war. - Die ganze Netzanlage, so wie er sie am Tage vorher in der freien Natur beobachtet hatte, vollzog sich hier vor ihm aufs neue im Bilde."

Dieser Bericht des Psychologen Kroh ist oft in der Literatur wiedergegeben worden. Er zeigt uns einen Knaben, der imstande ist, einen früher beobachteten Vorgang in seiner ganzen Bewegung wiederzusehen, obgleich er schon vergangen ist. Er schildert, was er "sieht" und was dennoch nicht gegenständlich da ist. Es ist ein "Bildschauer", ein Eidetiker. Es gibt aber auch Eidetiker, die imstande sind, auch ohne einen vorherigen äußern Vorgang rein aus der Einbildungskraft heraus etwas zu sehen, und zwar so deutlich, daß das Bild nicht von der Wirklichkeit unterscheidbar ist. Kinder können bei entsprechender Anlage namentlich im Dämmerdunkel Gestalten sehen in voller Deutlichkeit, obwohl es sich nur um Bilder ihrer Phantasie handelt. Schmeïng hat sich nun die Frage gestellt, ob die 'Vorschauer' als Personen mit solch eidetischer Anlage anzusehen seien. Auf Grund seiner Untersuchungen hat er folgendes gefunden:

Die Vorschauer sind erwachsene Eidetiker. Grundsätzlich muß man ihre 'Gesichte' anerkennen. Die eidetischen Kinder trennen meist ihre Wahrnehmungen und Vorstellungsbilder nicht deutlich - sie sehen, was sie denken - sie durchleben eine Einheitsphase. Bei den "Vorschauern" trennen sich in der Reifezeit die eidetischen Vorgänge von der Wahrnehmung des Wirklichen. Der Vorschauer erkennt seine "Gesichte". Daher berichten die Vorschauer zumeist von einem solchen Erlebnis, in dem ihnen ihre besondere Begabung - oft mit Schrecken - aufgegangen ist. Das Erlebnis erscheint ihnen dann entweder als eine Erhöhung oder als eine Bedrückung ihres Daseins. Oft bleiben es aufwühlende Erlebnisse, so oft sie auch dem Schauenden begegnen; manchmal stehen sie wie eine fremde Welt dem Gefühl des Schauenden gegenüber.

Auch manche Erwachsenen haben diese Fähigkeit. Frenssen gehört dazu. Er erzählt in seinen "Grübeleien": Das waren böse Stunden, als Maria Land - in den 'Drei Getreuen' - am Wehl kniete.

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Ich erinnere mich, daß ich immer an dem Tisch vorbei hin und her ging, weil sie da an der Schwelle der Tür lag und mit der Welt, die zu hart für sie war, den letzten Kampf kämpfte, in dem sie unterlag. Man möchte dann gern helfen) aber man ist machtlos. Man ist armseliger Zuschauer. Man darf nicht einmal ein armselig Wörtlein dazwischenreden; man ist stumm. Ein stummer Protokollführer. Und man führt das Protokoll um so besser, je kälter und ruhiger Blut man in solcher Stunde zu bewahren weiß."

Die eidetische Befähigung eignet zumeist Kindern und ist bei ihnen nicht als abnorm anzusehen 2). Mit der Reifezeit klingen die Erscheinungen meistens ab und hören auf; erwachsene Eidetiker sind selten.

Wenn auch jeder 'Vorschauer' ein Eidetiker ist, so ist doch nicht jeder Eidetiker ein Vorschauer. In Niederdeutschland aber gibt es mehr solcher Seher als anderswo, und "eigenartig bleibt hier auch die einseitige Auswahl depressiver Motive". Unter allem, was dafür bestimmend sein könnte, betont Schmeïng besonders die rassische Grundlage. Er stellt darüber eine Arbeitshypothesc auf, die hier des großen Interesses wegen wörtlich wiedergegeben werden soll (S. 117):


"Die eidetische Anlage ist - - - eine nahezu normal auftretende Erscheinung des Kindes- und Jugendalters. Wenn sie bei Erwachsenen auftritt, so haben sich diese insofern ein Stück Jugend erhalten. - - - Der nordische Typus weist nun überhaupt eine Reihe von Merkmalen auf, die einem bestimmten Jugendtypus entsprechen. Körperlich die schmale Gestalt mit langen Gliedmaßen, die Helligkeit des Haares, die feine Hautfarbe; seelisch die unruhige, abenteuerlustige Stimmung, Stolz, Trotz, Verschlossenheit, Neigung zur Selbstbehauptung der eigenen Person in Verbindung mit der Einordnung in übergeordnete Gemeinschaft; Willensbetonung, Tapferkeit, Idealismus und, in polarer Gegenstellung dazu, Neigung zu Träumerei, Schwermut, Mystik, zur seelischen Einsamkeit. Der Nordische wird mit der Welt nicht immer ganz fertig, selbst dann nicht, wenn er sie durch Leistung unterwirft; man lernt ihn auch nie ganz durchschauen, es bleiben immer noch verhaltene Hintergründe. - - - Im allgemeinen ist daher die nordische Rasse als ein Typus anzusehen,
in dem sich Jugendmerkmale in verschiedenen charakteristischen Eigentümlichkeiten besonders zahlreich erhalten haben. - - - Eines dieser erhalten gebliebenen Jugendmerkmale wäre denn auch die stärkere und häufigere Erhaltung der eidetischen Jugendanlage als Basis für die im Norden heimische Erscheinung des Zweiten Gesichts in der Form der Vorschau."

Der reiche Inhalt des Schmeïngschen Werkes kann hier nicht voll angedeutet werden. Wer die zahlreichen mit dem Thema zu-
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2) Ich habe, angeregt durch experimentelle Vorträge von Prof. Jaensch-Marburg, auch aus und in unserm Kreise vor einem Jahrzehnt einige Kinder als eidetische vorgeführt. Lehrer und Eltern sollten in solchem Fall Bescheid wissen. Falsch wäre es aber, von solcher Begabung Aufhebens zu machen oder den Unterricht darauf einzustellen. Man hat anderswo Beispiele einer üblen Entwicklung erfahren müssen.

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sammenhängenden Probleme kennen lernen und studieren will, muß das Buch selbst in die Hand nehmen; es ist auf seinem Gebiet unentbehrlich als ein sachkundiger und sachlicher Führer. Uns sollte die Darstellung einiger Gedankengänge des Forschers nur eine schlichte Einführung sein in Zusammenhänge, die uns von der Volkskunde her beschäftigen.

Zum Schluß berühren wir noch die eigentliche Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Erscheinungen. Das geschaute Bild ist für den Schauenden in der Tat vorhanden; dennoch entspricht ihm nichts in der Wirklichkeit. Der Anschein trügt. Es kann also der Schauende zu einem "EHRLICHEN IRRTUM" kommen. "Ein Kind, das vom Teufel hört, sieht auch den Teufel, wenn es selber ein Eidetiker ist. Da es den Teufel sieht, überzeugt es sich wieder von seiner leibhaftigen Existenz. Das wieder stärkt seinen Glauben und ergibt seelische Voraussetzungen für neue Gesichte. Der Irrtum bestätigt sich immer wieder von neuem; der Zirkel, den man als 'EIDETISCHEN ZIRKEL' bezeichnen kann, ist geschlossen." Man kann sich danach vorstellen, wie in der persönlichen Entwicklung des Schauenden, aber auch in der Entwicklung der menschlichen Gemeinschaft um ihn eine ganze Vorstellungswelt von Geistern und merkwürdigen Vorgängen aufwachsen und fanatisch geglaubt werden kann.

Was in solchen geschauten Bildern wirklich gesehen wird, was eine leibhaftige Wirklichkeit für den Schauenden hat, obwohl ihm nichts draußen entspricht, das rührt aus dem Innern des Vorschauers her. Wie dies sich begibt, was sich in seinem Innern abspielt, braucht ihm nicht bekannt zu sein; denn wir alle haben keinerlei Einblick in unser unbewußtes Seelenleben. Warum wir gerade dieses oder jenes denken, schließen, glauben, braucht uns in seinem Einzelverlauf gar nicht bewußt zu sein. Dennoch rührt es aus uns her. Aus solchen unbewußten Vorgängen tauchen auch die Bilder der 'Vorschauer' auf. Wie nun im Innern des Vorschauers, in seinem Seelenleben Wahrheit und Irrtum sich mischen können, so kann auch das geschaute Bild Wahrheit und Irrtum für die Erkenntnis enthalten; ein unterscheidendes Merkmal ist uns dafür nicht gegeben. Ist der Vorschauer ein Mensch von seelischer Tiefe und Kraft, so wird auch sein "Gesicht" eine "sichere Schau", eine "schöpferische Leistung" sein können. Er ist dann ein echter Seher.

Handelt es sich um die Zukunftsschau, so mag auch auf Grund unbewußten Urteils über ein zukünftiges Ereignis, etwa über einen Todesfall, der Schauer wirklich Eintretendes bildlich voraussehen - die Tausende von Versagern wird niemand des Erzählens wert halten, sondern nur jenen zutreffenden Einzelfall.

So etwa zeichnet Schmeïng die Probleme der Vorschau und der Vorschauer, jenes "gequälten Geschlechts der Seher der Nacht".

II.

Nach dem Einblick in die Forschung wird mancher merkwürdige Brauch auf volkskundlichem Gebiet verständlich. Man begreift, daß junge Leute, die in der Erregung der Neu­

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jahrsnacht im Erblaken zum Dachgiebel hinaufschauen, um in die Zukunft zu blicken, tatsächlich etwas sehen können, dann nämlich, wenn sie solche "Bildschauer" sind. Kein Wunder, daß bei der Besonderheit der auserlesenen, gewissermaßen vorgeschriebenen Motive (Tod, Geburt, Hochzeit, Feuer) auch wohl tatsächlich das Geschaute eintritt.

Auch das Liebesorakel wird verständlich. Jenes Mädchen, das in der Nacht nackt und gebückt zwischen den Beinen hindurch schaut, sieht schließlich das, was es so sehr fürchtet, zu sehen, nämlich den Teufel. Weil es ihn sieht, glaubt es um so fester und stirbt an seinem Glauben. Einmal geschehen, durch den Tod als wahrhaft erwiesen, wandert die Geschichte glaubenzeugend und warnend im Volke weiter.

Ebenso wird man die Erzählungen vom Erscheinen des wilden Jägers auf solche Erlebnisse zurückführen können. Wer solche Erzählungen hörte, sich in seiner Einbildungskraft damit beschäftigte, der mochte beim nächtlichen Sturm in der Einsamkeit draußen, beim Heulen und Brausen wohl die wilde Jagd ziehen hören und sehen - falls er eben die besondere Begabung des Bildschauers hatte. Er mochte in seinem "ehrlichen Irrtum" davon erzählen, und das mochte den Wodenglauben aufs stärkste nähren. Wir können uns also das WEITERLEBEN der Waugeschichten wohl klarmachen. Wenn aber Schmeïng in seinem Buch S. 30 meint, daß diese Verhältnisse auch bei der "ENTSTEHUNG des Mythos vom Wilden Jäger wohl mitgewirkt" hätten, so haben wir im vorangehenden Aufsatz über die Julzeit dargetan, daß wir, was die ENTSTEHUNG anlangt, ganz anderen Vorstellungen nachgehen müssen.

Am meisten beschäftigt uns aber die Frage nach einem eigentlichen Vorschauer. Unsere Landschaft gehört zu den bevorzugten Gebieten. 50-75 % der Fragen des "Volkskundeatlas" nach diesem Gegenstand wurden in unserm Kreis bejahend beantwortet 3).

Der GLAUBEN an die Vorschau besteht also. Gibt es aber, abgesehen von allen kleinen Erzählungen, heute noch einen Vorschauer unter uns? Trotz jahrelanger Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand ist mir nur einer bekannt geworden. Es ist der "alte Johann". Ich habe ihn nicht selbst kennen lernen können; nur durch einen jüngeren Mittelsmann, der ihm vertraut war, habe ich von ihm erfahren. Aus naheliegenden Gründen kann der Name nicht bekanntgegeben werden. Wir können unsern alten Johann daher nur durch seine Erzählungen einführen.

Gesichte des alten Johann.

1. In min jung Juadn arbee ick ubm Wullnooer Hof 4). Wat bei Inspekder dua weur, dei rei jümme 'n Schimmel. Ins ein'n Abend 5) güng ick Klock henne teedn bäd elm von Trenthoß na Wullnoo. Ubm halbm Weg'n käum duad'n Riere her tau spalken. Ick sprüng flink an dei Sied. Duamit spalk hei ok all an mi vöbie. Do feig ick dat, dat weur je dei Inspekder ub sin'n Schimmel, dei rei, as wenn
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3) Vgl. Karte bei Schmeïng S. 13.
4) Hof Wulmenau.
5) Einmal an einem Abend.

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dei Düwul achder em weur. Ick reit flink noch bei Klodd 6) von'n Kopp. Dunneja, dach ick, Wat hedd dei Inspekder vönabend noch so laat tau rieden! Schull duar Wat pessiert wäsen! Hei mag nad'n Dokder wülln? Mid so'n Gedank'n güng ick wiere. As ick ind Dörp keum, feig ick dua in'n Kraug noch Lich brenn'n. Schaß mal ringaan, dach ick, kann wäsen, dat du dua tau wäten kriß, wat dua eilich 7) los is. Un do sä dei Kräuge tau mi: "Heß all hüat, vüad'n half Stunn is dei Inspekder von'n Hoff inslaapn."

2. Ick kreig jümmer min Teikens. Einmal hüar ick nachs dei Klock'n gans dull lüdn, dat weur so Klock henne twölf. Do weck ick Murre un freug ihr, wat sei dei Klock'n nich lüdn hüan kunn. "Wat heß du all werre," sä sei, "slap man wiere." "Murre," sä ick, "sei lüd gans hell, schaß sein, dei lüt Heine läv man veiertedn Daag mia." Veiertedn Daag laater bleiv dei Jung dod.

3. As uns Paula dod bliebm de, kreig ick ok werre min Teik'n. Ick dröm, ick weur bid Ketüffelpurren. Ick harr man'n puar mia nah, öwer ick kunn ihr nich mia in dei Kiep laten. Ick harr dei Kiep all ubhüp, öwe sei läupen mi jümme werre rut ut dei Kiep. Do weck ick Murre ub un vetell ihr dat un sä tau ihr: "Dat is'n gans flinkn Dod'n, Paula läv man drei Daag mia. Un Paula wür ubm mal krank un bleiv na drei Daag dod. (Paula war ein früheres Pflegekind des Vorschauers.)

4. Ick heff ok mal sein, dat sik ein mit'n Düwul sleug. Ick sleug 'n lütn Inn 8) von dat Hus af an dei Straat Stein. Do seig ick mit'n mal den Bunt'n 9) an dat Hus langlopen. Hei leup ganz krumm, dei ein Hand hüll hei babm Kopp, ok'n Arfbuß 10) släp hei achder sick ran. Un achder em leup dei Düwul, ok'n Arfbuß in 'ne Hand, un duamit sleug hei ub den Bunt'n los. Dat güng so bät an'n Tinnsinn 11). Do drehdn sei sik bee 12) üm un nu kreig dei Düwul sin Drach. So läupen sei mihrmal trüch un vörs, mal kreig dei Buer sin Släg un denn dei Düwul. Tuletz seig ick ihr nich mihr. Dei Lüd säd'n je, hei harr sin'n Braurer mit'n Hamer dodslagn.

5. Bi den ol'n Kaths ut Schißraa 13) kreig ick ok min Teik'n. Do weuk ick nachs ub un seig üner uns Klock 'n liecherloh Füe brenn'n. Von uns Bedd inne Slaapkame kunn ick gra na dei Klock henkiek'n. Ick weck Murre ub un freug ihr, wat sei dat Füe nich brenn'n sein kunn. Sei kunn öwe nix sein. "Murre," sä ick, "Kaths läw noch veietedn Daag, denn bliv hei dod." Kaths kreig na veietedn Daag 'n Slag un weu dod.

6. Uns Hannis miel sik ok dörch'n Teik'n an. As wi abends in't Bett liegen dedn, güng uns Hannis achdert Slaapkamerfinster
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6) Die Mütze.
7) eigentlich,
8) Ende.
9) Der 'Bunte' war ein Bauer aus einem andern Dorf; er soll hier nicht genannt werden.
10) Erbsenbusch.
11) Ende des Hauses - to Endes Ende.
12) beide.
13) Sierksrade.

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lang un balle dreimal an dei Kökendüa. Do sä ick gliek tau Murre: "Nu is uns Hannis dod." N ' puar Daag later kreigen wi von dat Lazarett 'n Breif, dat Hannis denn un denn Dag in't Lazarett storben weur, un dat abends Klock elm.

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Die erste Erzählung ist wohl das Eingangserlebnis, an dem unserm Johann seine besondere Anlage aufgegangen ist. Die Erscheinung ist ein Augenerlebnis von solchem Leibhaftigkeitscharakter, daß der Vorschauer zur Seite springt und die Mütze, der Sitte geziemend, vor dem Inspektor vom Kopfe reißt. In Gedanken darüber, was den Reiter bewegen möge, sucht er den Krug auf. Offenbar kannte er vorher seine Anlage noch nicht, wußte noch nicht, daß es sich um ein Gesicht handelte. Die Nachricht im Krug wird ihn aufgeklärt haben. Wie er sich nun verhielt, erzählt er nicht. Nach seinem spätern Verhalten zu urteilen, wird er das "Gesicht" für sich behalten haben. Wenn nicht, dann hat er vielleicht an diesem einen Erlebnis gelernt, daß es nicht immer gut ist, aufzufallen, ein Speukenkieker zu sein, ein Künder trauriger Gesichte.

Die zweite Geschichte ist wieder ein nächtliches Erlebnis, diesmal hört er: die Glocken läuten hell. Stilles, unbewußtes Sorgen um 'denn lüttn Heine', ein unbewußtes Erahnen seines baldigen Todes wird dem Vater zum 'Vorhören', das ihm Kunde der Zukunft sein muß. Die Kunde bestätigt sich: der Vater hat richtig gesorgt, gefühlt, geahnt, wenn ihm auch der Anlaß zu seinem Erlebnis nicht einsichtig ist.

Ein drittes Gesicht meldet den Tod der Pflegetochter. Ein 'Traum', ein Gesicht der Nacht, in einem Grenzzustand, bei dem er zugleich tätig mitwirkt. Er sammelt Kartoffeln und müht sich vergeblich, sie in der Kiepe weiter aufzuhäufen. Das gibt einen 'eiligen Toten'. Welcher Blick des Vorschauers mag - ihm selbst natürlich unbewußt - die plötzliche Erkrankung der Tochter vorausgefühlt haben? War es ein Blick bei dem gemeinsamen Arbeitsleben während der Ernte auf dem Felde, ein Blick, der sich als Tiefenblick bewährte?

Anders die vierte Geschichte. Der Bauer aus dem Dorfe, der Bunte genannt - wir nennen ihn selbstverständlich nicht - hat offenbar die Phantasie des Volks und auch unseres Johann stark beschäftigt. Das Gesicht geht anscheinend am hellen Tage vor sich, was selten ist. Es nimmt die Jenseitsstrafe vorweg. Das Bild taucht vor dem Hintergrund des Hauses "dat Hus lang" auf und ist voller Bewegung. Bemerkenswert ist das plötzliche Auftauchen und das Vergehen: ick seig ihr nich mihr.

Die fünfte Geschichte ist wieder ein nächtliches Gesicht; im Halbdunkel sieht der Vorschauer ein Feuer unter der Wanduhr. Er nimmt das Feuer - was merkwürdig ist - als Kunde von dem kommenden Tode des alten Bauern, nicht etwa von einem Brande.

Endlich die sechste Geschichte. Sie ist ergreifend; der im Feld sterbende Sohn zeigt sich an. Ein Ferngesicht! Im Vorhören hört der Vater den Sohn kommen. Mit Sicherheit kündet er der Mutter das Ereignis. Es mag jedem Leser überlassen sein, hier Zusammenhänge zu ahnen, zu deuten oder auch im Geheimnis ruhen zu lassen.

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Unser alter Johann ist ein typischer Vorschauer. Die Gesichte kommen ihm zur Nachtzeit oder in der Abenddämmerung, als Vorschauen oder als Vorhören; das letztere ist unter den Schauenden seltener. Ihm kommen die Gesichte nicht häufig, sie sind sehr deutlich und verändern sich offenbar in der Erinnerung nicht. Im Grunde handelt es sich immer um den Tod. Nur ein Gesicht kündet von einem Strafgericht. Auf alle Fälle sind es niederdrückende Erlebnisse. Unser Johann ist in seinem Beruf ein kleiner Landmann gewesen. Ruhig von Wesen, hat er ruhig seine Gesichte hingenommen und nicht leicht davon gesprochen. Einem Fremden hätte er sich sicherlich nicht offenbart. Ein ernster Mensch, der aus seinem eigenen Innern lebt, nicht leicht sein Inneres im Mienenspiel ausdrückt, im praktischen Leben ein Mensch von sicherer Arbeitsleistung, ganz ein Niederdeutscher.

Heute ist unser Johann alt. Offenbar ist seine besondere Anlage im Zerfall, es will nicht mehr, und nun ist er etwas wunderlich. So wird es ihm erspart bleiben, in einem Vorgesicht sein eigenes Ende zu erschauen. Uns hat er die Möglichkeit gegeben, einen typischen niederdeutschen Vorschauer aus unserer Landschaft näher zu erfassen.


 

 

 

 

 

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